1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
der alte Diener, und der Wagen rollte fort über die Brücke auf den Wassersturz zu. Das Donnern desselben betäubte das Ohr, die weißen stäubenden Wolken umhüllten den Wagen wie mit dichtem Nebel. Plötzlich waren sie verschwunden und dichte Finsternis bedeckte die Reisenden; das Getöse des Wasserfalls und des Stroms vernahm man nur noch ganz dumpf. »Wo sind wir?« fragte Bianka.
»Ich glaube, im Gewölbe einer der Galerien, durch welche die Straße führt.«
»Das ist die Galerie von Frissinone«, ließ sich die Stimme des Postillons vernehmen, der sich nicht wenig darauf einbildete, die Schrecken und Wunder dieser Straße genau zu kennen und sie französisch namhaft zu machen.
Weder Bianka noch Ludwig hatten, da ihr Blick an dem Wassersturz hing, bemerkt, daß man in ein Felsentor eingefahren war. Der Wagen rückte langsam in dem Gewölbe vor, das auch nicht durch den leisesten Schimmer des Lichtes erhellt wurde. Plötzlich aber fiel ein dämmernder Schein von oben herab; erstaunt sahen die Reisenden aufwärts und erblickten einige schimmernde Sterne, die aber ebenso rasch wieder verschwanden. Man hatte sich unter einer Öffnung in der Schlucht befunden, die am Tage einiges dämmernde Licht in diese düstere Felsengruft wirft. Nach zehn Minuten erreichte man das Freie wieder.
Bianka atmete aus tiefer Brust. »Gott sei Dank!« sprach sie, »mir wurde doch ein wenig bange in der Schlucht. Aber wozu dient diese finstere Wölbung?«
»Hauptsächlich zum Schutz gegen die Lawinen, denn man hat sie meist an den Stellen angelegt, wo das Hinabstürzen derselben am häufigsten stattfindet; mehrfältig aber hat man auch durch dieses kühne Durchbrechen des Felsens einen bedeutenden Umweg erspart. Die ganze Straße ist ein Riesenwerk wie alle, die der kolossale Mann unternimmt, der mit so scharfem Blick die Wichtigkeit dieses Baues zur Verknüpfung seiner Völker erkannte. Was seit einem Jahrtausend dringender Wunsch gewesen war, und wovor zwanzig Geschlechter zurückbebten, weil die Aufgabe menschliche Kräfte zu übersteigen schien, das richtete dieser kühne, schöpferische Geist durch einen Wink ins Werk, nur weil sein mächtiger Wille es gebot.«
»Ich staune ihn an! Aber ich glaube doch, daß dieser düstere Genius furchtbarer im Verheeren als mächtig im Erschaffen ist«, entgegnete Bianka mit weiblichem Zurückbeben vor den kriegerischen Ereignissen, die sie bei ihren Worten im Sinne zu haben schien.
»Er zerstörte nur, um zu schaffen,« erwiderte Ludwig mit Feuer; »auf der Lava, die der Vulkan auswirft, blüht die reichste Flur empor!« – »Und gedenken Sie nicht derer, die unter dem Aschenstaub verschüttet liegen?« fragte Bianka. – Ludwig seufzte. Seine Seele war hier im Tiefsten getroffen. Wohl gedachte er der Verschütteten, gedachte er seines Vaterlandes; aber dennoch vermochte er nicht, seiner Bewunderung des Mannes, vor dem Europa bebte, zu entsagen. Dieser Streit in seiner Brust hatte ihn schon oft schmerzlich zerrissen, und jetzt ging er, durch die Rückkehr in seine Heimat, durch die Nähe des ungeheuern Krieges, dessen schwarzes Wettergewölk sich mit jedem Tage düsterer zusammenzog, neuen furchtbaren Kämpfen dieser Art entgegen.
»Wir sind geboren,« sprach er nach einer Pause mit leiser Stimme, »um die Schuld unserer Väter zu sühnen. Das eiserne Rad des Schicksals zermalmt uns; ach, ich weiß es nur zu wohl! Aber nicht auf die wälze ich die Schuld, die den Richterspruch der unvermeidlichen Nemesis vollstrecken. Die Geschichte hält ein strenges, schweres Strafgericht. Sie richtet nur Taten, nicht Täter. Darum büßen wir die Schuld der Vorfahren. Aber auch die eigene; denn dürfen wir uns von feiger Versunkenheit und Entartung freisprechen? Deutschland, – – o lassen Sie mich schweigen, denn mein Herz blutet, wenn ich daran denke!«
Beide schwiegen; da bog sich der Weg ein wenig nach Osten, und plötzlich glänzte ihnen der sanfte Mond, der im reinsten Äther zwischen zwei zackigen Berggipfeln schwebte, entgegen, gleichsam als ein freundliches Pfand der Gottheit, daß nach dem Sturm die Ruhe wiederkehren werde. Zugleich stiegen über der schwarzen, aus dem Schatten der Nacht aufwachsenden Felswand vor ihnen zwei silberweiße Schneehörner empor, die das Mondlicht glänzend zurückwarfen.
»O Gott!« hauchte Bianka aus tiefgerührter Brust, ergriff die Hand ihrer Pflegerin und deutete auf die Schneegipfel. Ludwig fühlte, daß warme, milde Tränen über seine Wangen
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