1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
Macht hinzog. »Die Sache Rußlands ist auch die Ihres Vaterlandes, sie ist die ganz Europas,« erwiderte die Gräfin nach einigem Besinnen; »doch ich fühle mich zu schwach, Ihnen das jetzt unwiderleglich darzutun. Sie werden uns auf ein Jagdschloß, zwei Stunden von hier, begleiten; es liegt so tief im Walde, daß es vor jedem feindlichen Überfalle gesichert ist. Doch können wir erst gegen Abend aufbrechen, weil unser Schlitten einige Schwerverwundete nach einem ziemlich weit von hier entfernten Dorfe bringt. Indessen sollen unsere Leute Sorge tragen, daß es Ihnen an nichts mangele.«
Bei diesen Worten winkte sie mit der Hand, als bedeute sie Ludwig, daß er abtreten könne. Doch Feodorowna fiel, sichtlich erschreckt über den kalten, vornehmen Ton der Gräfin, ein: »Diese Sorge werde ich selbst übernehmen, teuerste Mutter; der Retter unsers Lebens darf uns nicht undankbar finden.« – »Ich hoffe, er werde russische Großmut kennen und schätzen lernen«, antwortete die Gräfin stolz und verdrießlich. »Doch würde ich dich bitten, meine Tochter, mich nicht zuviel zu verlassen, da du weißt, daß ich deines Beistandes in meinem Zustande hier, wo wir jeder Bequemlichkeit des Lebens entsagen mußten, notwendig bedarf.«
Ludwig verbeugte sich und ging; doch Feodorowna folgte ihm sogleich. »Ich beschwöre Sie, tun Sie nichts, was Ihnen Mißgunst zuziehen würde«, sprach Ludwig dringend zu ihr, als sie im Freien waren. »Das schönste Glück ist mir ja geworden; was kann ich Höheres wünschen?« – »O, Sie entschuldigen so gütig,« erwiderte Feodorowna; »doch auch ich muß meine Mutter verteidigen. Sie ist mit ganzer Seele ihrem Vaterlande ergeben, und dies ist auch die Ursache, weshalb Sie uns hier in dieser seltsamen Lage antreffen. Sie wollte durchaus – und fügte sich darin nicht bloß dem Willen meines Vaters – durch ihre Gegenwart, durch Zuspruch, Hilfe für Verunglückte und durch jenen anregenden Einfluß, der höher Stehenden so leicht wird, wenn sie ihn auf die in Demut Untergebenen üben wollen, den Mut und Eifer der versammelten Volksmenge anspornen. Diese Pflicht hat sie mit solcher, die weiblichen Kräfte übersteigenden Anstrengung geübt, daß sie jetzt krank und erschöpft darniederliegt und gezwungen ist, sich auf jenes Schloß zu begeben, wohin wir hoffentlich bald abreisen werden.«
Ihr Gespräch wurde dadurch unterbrochen, daß der Greis, welcher Ludwigs Retter aus den Händen erbitterter Feinde gewesen war, als er vor zwei Stunden, an den Todespfahl gebunden, ein Opfer der Volksrache fallen sollte, aus dem Gebüsche trat. Es war Gregor. »Sei gegrüßt, meine Tochter,« redete er Feodorowna in russischer Sprache an; »erbarmst du dich dieses Unglücklichen?« – »Diesem ehrwürdigen Greise,« rief Ludwig, als er ihn gewahr wurde, und ergriff mit warmem Dankgefühle seine Hand, »verdanke ich zuerst das Leben und jetzt das schönste Glück desselben.« – »Also ihr, Vater Gregor,« sprach Feodorowna gerührt, »habt mir diesen teuern Freund, der einst der Retter meines Vaters, meiner Mutter und meiner selbst war – ach er ist es zweimal geworden – ihr habt ihn mir erhalten? Diese neue Schuld muß mein Herz gegen euch übernehmen?« – »Liebe Tochter,« entgegnete Gregor freundlich, »das Gebot des Herrn forderte seine Rettung. Er war hilflos, ohnmächtig, gebunden; unsere Feinde waren auch seine Feinde, und so gehörte er uns an. Möchte er jetzt ganz einer der Unsern werden und das Schwert gegen die Frevler wenden, die von Gottes Racheblitzen furchtbar getroffen werden.«
Ludwig schwieg, denn er verstand die russisch gesprochenen Worte nicht; doch Feodorowna erwiderte schnell: »Nein, mein Vater, dies laß uns nicht flehen und nicht von ihm fordern. Wie schwer sich die Seinigen an ihm vergangen haben mögen, er soll nicht Rache an ihnen üben, darf nicht Verräter an denen werden, die eine Sprache mit ihm reden, in einer Heimat mit ihm wohnen. Rußlands heilige Sache bleibe seinen eigenen Söhnen überlassen! Sie sind stark genug, sich selbst Rache und Sühne zu schaffen. Es muß ihr Ruhm, ihr eifersüchtiger Stolz sein, keinen Fremden an dem Werke teilnehmen zu lassen, das sie selbst zu vollenden vermögen. Darum mein Vater, laß uns die Gesinnungen dieses Gastes gegen die Seinigen ehren. Dich führt ein willkommenes Geschick mir entgegen. Dir sei der Fremde zur Pflege empfohlen, du wirst väterliche Sorge für ihn tragen, bis ich zu dir sende. Teile dein Mahl,
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