1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
Augenblicke der Ruhe ein, wo er die verworrenen Bilder ordnen und nacheinander an sich vorübergehen lassen konnte. Gegenwart und Vergangenheit, Ferne und Nähe lag vor seiner Seele; Schmerz und Freude, Sorgen und Hoffnung traten dicht zueinander. Sein Schicksal bot ihm das Bild einer herbstlichen Landschaft, wo düstere Wolkenschatten neben hellem Sonnenglanz ruhen, wo das grüne und welk fallende Laub sich wunderbar mischen.
Die Geliebte, die Verlorene ist dir nahe; der Hauch ihrer Lippe streift dich, deine Hand kann sie berühren! Darfst du sie aber jemals an dein Herz schließen? Wird sich die eherne Pforte des Geschicks nicht abermals mit dumpfem Donner vor dem geöffneten Paradiese zuschlagen, daß du draußen in dem kalten, öden Dunkel verzweifelst? Und der Freund! Der treue, teuere, unersetzliche Freund! Hat ihn das düstere Schicksal ereilt, das ein Gott von deinem Haupt wandte? Oder trifft ihn der furchtbarere Tod in dieser Winteröde? Muß er einsam, schauernd Abschied nehmen von den goldenen Tagen des Lebens? Reicht sich ihm keine tröstende Hand in den letzten, bangen Minuten, um ihm den herben Kelch durch süße Tropfen der Liebe zu mildern? O Allmächtiger, zerreiße das Herz nicht, das du beseligen willst! Diese Todeswunde heilt auch nicht an der Brust der Geliebten! Nein, nein! Soll es um diesen Preis sein, so sinkt mir die schmerzermattete Hand herab, und ich vermag die Schale der Wonne, die du mir reichst, nicht an die Lippe zu führen! – »Es wird recht finster«, sprach Willhofen. »Diese Wälder sind doch schauerlich. Horch! Hört ihr den Wolf? Er heult vor Hunger. Wenn ihm der Wind unsere Witterung bringt, wird er bald auf unserer Spur sein. Holla, Bursche, ihr dort vorne! Reitet dicht an uns! Habt ihr die Büchsen geladen? Wir könnten sie gebrauchen.«
Ludwig blickte mit Besorglichkeit nach den Frauen zurück. Doch die Nacht und die dichten Schleier, welche sie trugen, machten es unmöglich, ihre Züge zu erkennen und zu bemerken, ob sie die Besorgnis teilten. »Hat es Gefahr?« fragte er Willhofen leise. – »Selten, lieber Herr. Seid nicht bang.« – »Ich bin nicht um meinetwillen besorgt,« antwortete Ludwig; » aber wir haben Frauen bei uns.«
»Es hat nichts auf sich. Wir haben drei Büchsen, und euch gebe ich meinen Hirschfänger. Hm! Es muß doch ein ganzes Rudel beisammen sein; hört nur, wie sie heulen.«
Man fuhr eben durch tiefen, ungebahnten Schnee sehr langsam dahin; der Wind schwieg, daher konnte man in der lautlosen Stille das Geheul der hungerigen Raubtiere deutlich vernehmen. »Die Pferde wittern ihren Feind wahrhaftig auch schon,« sprach Willhofen leise, »seht nur, wie scheu sie die Köpfe herumdrehen und mit den Nüstern schnaufen. Paulowitsch und Stephanos,« rief er den Reitern zu, »braucht euere Sporen, daß wir rasch die Ecke bei der großen Fichte erreichen. Dort zieht der Weg sich so weit rechts, daß wir den Bestien vielleicht aus der Witterung kommen.«
Er schwang die Peitsche und trieb die Pferde an. Bald darauf bog der Weg sich um eine hohe, alte Fichte, deren Stamm die Ecke bildete, scharf rechts ein. Indem die Reiter den Winkel machen wollten, stutzten sie und hielten ihre Pferde zurück. »Was gibt's?« fragte Willhofen. – »Hier liegt ein Mensch im Wege!« erwiderte der Reiter. – »Wahrhaftig!« rief Willhofen, der eben bis an die Ecke gelangt war. »Tot oder lebendig? Heda! Antwort! – Er rührt sich nicht; es muß ein Leichnam sein. Wir wollen ihn aus dem Wege räumen, sonst kommen wir mit dem Schlitten nicht durch.« Er hielt an und wollte Ludwig die Zügel geben; doch dieser sprach: »Ich helfe euch. Man muß doch sehen, ob er wirklich tot ist.«
Der Kutscher nahm die Zügel, Ludwig und Willhofen stiegen ab, um den Körper aus dem Wege zu tragen. »Allmächtiger Himmel, es ist Bernhard!« rief Ludwig aus, als er sich gegen das Haupt des Toten herabgebeugt hatte, um ihn emporzuheben. »Bernhard, lebst du? Wenn noch ein Atemzug in dir ist, beschwöre ich dich, gib mir Antwort.« Er kniete weinend bei dem Erstarrten nieder, hob ihm das Haupt empor, lehnte es gegen seine Brust und drückte heiße Küsse auf das kalte, bleiche Antlitz.
»Was gibt's?« fragte die Gräfin ungeduldig. Feodorowna aber hatte den Ruf des Freundes gehört und eilte, vom niedrigen Schlitten herabspringend, selbst hinzu. »Finden Sie einen Freund hier?« fragte sie mit bebender Stimme, als sie Ludwigs schmerzliche Angst sah.
»Einen Freund! O den einzigsten,
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