1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
Menschen stürzten übereinander; fürchterliches Geschrei und Toben erscholl. Die Kavallerie sprengte dazwischen und suchte Ordnung zu erhalten, indem sie diejenigen mit Säbelhieben zurücktrieb, welche sich außerhalb der Reihen eindrängen wollten; allein kaum gelang ihr dies an der einen Seite, so hatte sich an der andern schon das dreifache Unheil ereignet. Verwundete gerieten unter die Räder der Wagen und erhoben ein durchdringendes Geschrei um Hilfe; doch es wurde übertäubt durch die Flüche und das wilde Rufen, womit diejenigen, die, dem Ziele nahe, nur noch einer letzten Anstrengung bedurften, um gesichert zu sein, ihre Gespanne antrieben.
»Heiliger Gott, was soll daraus werden!« rief Bianka erblassend und heftete, indem sie das ängstlich gewordene Kind fast bewußtlos an die Brust drückte, erstarrte Blicke auf das Gemälde des Grausens ringsumher. – »Sei ruhig, Teuere,« sprach Ludwig begütigend; »es ist nur der erste Augenblick des Schreckens, gewiß wird sich bald alles wieder beruhigen; denn jeder kann ja sehen, daß er auf diese Weise nur sein eigenes Verderben beschleunigt.« – »O, laß uns lieber zurück zu Rasinski,« bat sie sanft; »dieser entsetzlichen Rettung über die zermalmte Brust hilfloser Verwundeten entsage ich. Lieber erwarte ich den Tod durch die feindlichen Kugeln, als daß ich diesen blutigen Weg betrete.« – »Die Rückkehr ist unmöglich, Bianka«, entgegnete Ludwig, indem er seine Blicke ringsumher warf. »Siehe, mit welchen Massen von Wagen und Menschen diese Abhänge und alle herabführenden Wege bedeckt sind; man könnte sich leichter eine Bahn durch den Fels graben als durch dieses Gewühl dringen.«
Bernhard, der gleich Ludwig neben dem Wagen gestanden hatte, schwang sich auf die Achse des Hinterrades, um einen freiern Überblick zu haben. Ein unabsehbares, düsteres Gewimmel, welches sich, soweit man die Ufer verfolgen konnte, an ihren Krümmungen entlang und die beschneiten Anhöhen hinaufzog, bot sich seinem Auge dar. Durch die einbrechende Dämmerung erschien es noch unbestimmter und riesenhafter. »Hm!« murmelte er vor sich hin, »das Schwarze Meer mitten im Eismeer; und es fängt an die Wogen im Sturm zu erheben.«
Am äußersten Rande des Horizonts, wo Nacht und Ferne sich verschmolzen, glühte der düsterrote Widerschein des brennenden Borisow. Ein Nachtsturm fing an die Flügel zu erheben und brauste hohl mit eisigkaltem Hauch über die Fläche hin. Selbst dem felsenherzigen Bernhard erfüllte ein banger Schauer die Brust, und es ahnte ihm, hier werde sich alles Entsetzliche, was dieser Krieg geboren, zusammenhäufen und die frühern Schrecken riesenhaft überbieten. Für sich allein fühlte er Kraft, allem zu trotzen; doch, wenn er den Blick auf die Schwester warf, wenn er ihre Jugend, ihre Schönheit betrachtete, sich der Opfer erinnerte, die ihre reine Liebe ihm gebracht, und dann zurückschaute auf dieses Unergründlich tiefe Meer des Verderbens und des Entsetzens, das ringsumher die finstern Wogen erhob – dann mußte er einen ehernen Harnisch des gewaltsamen Wollens um seine Brust schmieden, damit sie nicht ermattet breche unter der Last ihrer Schmerzen.
Aus jungfräulicher Schüchternheit richtete Bianka ihr Vertrauen in diesen Drangsalen noch immer mehr zu dem Bruder als zu dem Geliebten; auch hielt sie ihn wegen seiner raschen Art zu handeln für entschlossener und umsichtiger in Gefahren als den ebenso männlich gefaßten, aber weichern Ludwig. Deshalb wandte sie auch jetzt ängstlich fragende Blicke zu ihm, die Rat und Trost suchten. Sie drangen in seine tiefste Brust; absichtlich aber richtete er kein Wort an sie, denn er war zu erschüttert, um dies nicht durch seine Stimme zu verraten; seine rauhe Larve aber, seinen stacheligen Panzer wilden Scherzes mochte er dieser Sanften gegenüber nicht anlegen, weil er wußte, daß sie sich daran verwundete.
Glücklicherweise hielt der Wagen, auf welchem sie sich befand, an einer Stelle, die nicht in die Fluten des strömenden Gedränges hineingerissen wurde, von welcher man daher, wenngleich es keinen Rückweg gab, doch wenigstens nicht gewaltsam in den alles verschlingenden Strudel getrieben werden konnte. Dies gereichte zwar zu Biankas eigenem Heil; doch da sie sich stets in fremder Seele fühlte, so litt sie desto unaussprechlicher bei dem Anblick des Jammers und Schreckens, den sie vor Augen hatte, ohne retten oder lindern zu können. In stummer Qual saß sie, wie ein Opferlamm, das
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