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1812 - Ein historischer Roman (German Edition)

1812 - Ein historischer Roman (German Edition)

Titel: 1812 - Ein historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ludwig Rellstab
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unter dem geschwungenen Beil zittert, unbeweglich da und wandte das Auge auf das ängstlich gewordene Kind in ihrem Schoße; selbst zitternd, herzte sie es und suchte es zu beruhigen. Jeannette neben ihr war bleich wie eine Leiche; sie wagte keinen Laut zu sprechen, aber kalte Tränen der Angst rollten unaufhaltsam über ihre Wangen herab. Beiden Frauen gegenüber saßen zwei schwerverwundete Offiziere, die jedoch durch ein betäubendes Fieber, welches schwere Kopfwunden erzeugten, unempfindlich gegen die Schrecken um sie her gemacht wurden. Unter diesem Druck der Angst und schweren Sorgen schlichen die Minuten mit bleierner Langsamkeit dahin.

Viertes Kapitel.
    Plötzlich vernahm man ein dumpfes, donnerndes Krachen und gleich darauf zerriß ein Schrei des Schreckens die Lüfte. Aller Augen wandten sich nach dem Strom, woher der durchdringende Weheruf erscholl, und ein erstarrendes Grausen fesselte Brust und Lippe, als man die Brücke unter ihrer Last und dem Andrang furchtbarer Eisschollen inmitten des Stromes gebrochen und mehrere Joche hinweggerissen sah. Nur von den nächstliegenden erhöhten Punkten des Ufers konnte man dies bemerken; die bei weitem größere Masse aber, die sich auf der Brücke selbst und am tiefern Ufer befand, ahnte nichts von dem Unfall, sondern drängte mit rasender Verblendung vorwärts und trieb die, welche am Rande des Abgrundes standen, gewaltsam in ihren Untergang. Vergebens klammerten sich die Unglücklichen an die Trümmer der Brücke, vergebens riefen sie mit herzzerreißendem Laut das Erbarmen ihrer Brüder an – es gab keine Wahl mehr, gewaltsam wurden selbst die Mitfühlenden zum grausenvollen Morde ihrer Gefährten gedrängt, um im nächsten Augenblick auf dieselbe Weise unerbittlich in den schwarzen Schlund des Stromes gestürzt zu werden. Die Angst erzeugte Verzweiflung und Wut. Die sich verloren Glaubenden wurden zu rasenden Tigern, denn mit gezogenem Schwert stürmten sie rückwärts in die gedrängten Scharen ihrer Brüder hinein, um sich eine Bahn nach dem Ufer zu brechen. So entstand ein empörender Kampf, ein wahnsinniges Morden unter befreundeten Kameraden; die rückwärts wogende Flut des Ge- dränges kämpfte mit der vorwärts strömenden, und dadurch erzeugte sich ein furchtbares Zusammendrängen gegen die Mitte hin. Die scheuen Pferde bäumten sich empor oder suchten in der Angst seitwärts einen Ausweg und stürzten so samt den Wagen an der Seite der Brücke in den Strom hinunter. Angstruf, Wehgeschrei, Gebrüll der Wut, wildes Getümmel und Getöse von allen Seiten!
    Nur wenige Minuten dauerten diese Schreckensszenen, die ein furchtbares Nichtwissen, ein unseliger Irrtum erzeugte; doch jede Minute kostete Hunderten das Leben, die schon den Saum der Rettung berührt hatten. Und in die Brust vieler Tausende tauchte das grause Gespenst des Entsetzens seine kalte Hand, und sie empfanden ahnend, welch ein Geschick die düstern Zukunftsschwestern aus ihnen webten.
    Während die Brücke wiederhergestellt wurde, trat eine erwartungsvolle Stille ein. Das Unglück, das bereits geschehen war, hätte, so sollte man glauben, die noch übrigen belehren können; auch geschah, was irgend möglich war, um eine bessere Ordnung des Zuges vorzubereiten. Allein jetzt erschwerte die Nacht noch jede Leitung der unübersehbaren Menge, und nur der kleinste Teil konnte wissen oder vermuten, was geschehen war. Jeder wurde gleichsam mit verbundenen Augen seinem Schicksal entgegengeführt, und erst wenn er mitten auf dem strudelnden Strom des Verderbens trieb, wo es keine Flucht, keine Rückkehr mehr gab, wurde ihm die Binde von den Augen gerissen und er stand schaudernd am Rande des Abgrundes.
    Die Zahl derer, die zu Opfern bestimmt waren, wuchs überdies von Minute zu Minute an, da immer noch Nachzügler, Verwundete, Entkräftete von allen Seiten herankamen. Plötzlich wurde das dumpfe, schauerliche Ge- murmel, welches man an den Ufern des verderblichen Stromes hörte, wieder durch lauten Kanonendonner unterbrochen. Die Flammen von Borisow schlugen heller auf; von dorther schien sich der glühende Lavastrom des Kampfes lang- sam heranzuwälzen. Während man gespannt auf die rollenden Donner dieses neuen Ungewitters horchte, öffnete sich der Krater noch auf einer andern Seite und verkündete seinen Ausbruch mit lautem Krachen des Geschützes. Dieser zweite Kampf hatte sich offenbar vor Studianka, vielleicht gar auf den Höhen, wo auch Rasinski lagerte, entsponnen, so nahe vernahm man den

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