1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
drückte und sie an seine Brust zog. – »Freilich,« warf Bernhard hin, »hier wird keinem sanft gebettet; wer den Tod nur hier gesehen, wird ihn nicht wie die Alten als Genius mit der umgekehrten Fackel bilden. Selbst unser Beingerippe ist noch zu freundlich; er ist ein eherner Zyklop, der unter seinen Füßen und mit seiner Keule alles zerstampft und zermalmt. Doch wie heilig die Pflichten der Liebe und Trauer sein mögen, wir können nicht länger bei ihnen verweilen. Seht, dort oben an der Höhe zeigen sich schon wieder schwarze Massen; Russen oder Franzosen, gleichviel, hier ist alles Feind, denn die Menge verderbt sich untereinander. Laßt uns eilen, dort um die Krümmung des Ufers zu kommen, ob wir vielleicht weiter aufwärts eine Hütte oder ein Dorf finden, das uns Obdach gewähre.« Er wollte die Schwester fortziehen, doch sie bat: »Nur eine Locke laßt mich entnehmen von ihrem Haupt!« – »Gern,« antwortete Bernhard, indem er ihr zugleich eine kleine Schere aus seiner Brieftasche darreichte und ein Blatt herausriß, um das Haar einzuwickeln; »doch beeile dich, Schwester.« Sie kniete auf den Schnee nieder, schnitt eine schöne Locke aus dem reichen blonden Haar, rollte sie auf und barg sie wohlverwahrt in ihrem Busen. Dann drückte sie einen schmerzlichen Kuß auf die blasse Wange des Mädchens, benetzte sie noch einmal mit ihren Tränen und hauchte ihr ein lispelndes »Schlummere süß« zu.
Mit hastiger Eile setzten sie jetzt ihre Flucht fort, den Strom aufwärts. Eine starke Biegung desselben brachte ihnen die Brücke und das Getümmel daselbst völlig aus dem Gesicht, und sie hörten nichts mehr als den dumpfen Donner der feindlichen Kanonenschüsse; sonst umgab ihren Pfad schauerliche Wintereinsamkeit. Zur Linken schoß die schollentreibende Beresina dahin, zur Rechten begleiteten sie die Höhen, von denen der Sturm, der ihnen kalt, daß Angesicht und Hände erstarrten, entgegenbrauste, den Schnee stäubend aufjagte. Und dennoch war diese rauhe Winterwüste ein freundlicher Zufluchtsort gegen die Stätte der gräßlichen Verheerung, der sie entflohen.
Allein es mußte sich bald ein Obdach zeigen, sonst versagten ihnen die Kräfte, denn Bianka war aufs äußerste erschöpft. Bernhard hielt ihre Hoffnung damit aufrecht, daß Weselowa nicht mehr entfernt sein könne. Wenn sie dort auch nur Russen fanden, so war ihre Rettung gesichert, da Bianka sich nach Bernhards Anweisung für eine vor den Franzosen geflüchtete Russin, und ihn und Ludwig für ihre ausländischen Hausbeamten ausgeben sollte. Fanden sie Franzosen, so war es an den Männern, von diesen Hilfe und Rettung zu gewinnen. Über eine Stunde hatten sie jetzt die Wanderung fortgesetzt, und noch immer wollte das ersehnte Weselowa nicht sichtbar werden. Da machte Ludwig Bernhard aufmerksam darauf, daß auf der Höhe, rechts, sich einzelne Reiter zeigten. Bernhard mit seinem schärfern Auge rief sogleich: »Das sind Kosaken; ich erkenne sie an den Lanzen; wenn uns diese habsüchtigen Gäste hier überfielen, so würde uns schwerlich etwas vor der Plünderung retten. Dem Beutegierigen ist es gleich, ob er den Landsmann oder den Feind beraubt, wenn er es ungestraft vermag. Wir wollen uns hier unten so dicht am Ufer hinschmiegen als möglich.« Dies geschah in größter Eile, doch es war vergeblich, denn schon hatten die Reiter sie bemerkt und sprengten ihnen, wie es schien, verfolgend nach. Abermals machte der Fluß eine Biegung, die sie glücklicherweise den Verfolgern aus dem Gesicht brachte; zugleich sahen sie in der Ferne die beschneiten Dächer Weselowas vor sich und hatten so die Rettung im Angesicht.
Doch Biankas Kräfte waren durch die Anstrengung dieser letzten Eile völlig erschöpft, sie sank auf die Knie und rief: »Ich vermag nicht mehr! O, flüchtet ihr und rettet euch, und laßt mir das Kind; ich werde Erbarmen bei diesen wilden Horden finden.« – »Wir tragen dich,« rief Bernhard; »bis zu jener Hütte reichen unsere Kräfte.« Und schon hatten er und Ludwig sie emporgehoben und versuchten das Unmögliche. Doch nach wenigen Schritten mußten sie es aufgeben, denn sie versanken fast im tiefen ungebahnten Schnee. – »Entflieht, ich beschwöre euch! Bruder, Geliebter, entflieht, das ist die einzige Rettung für euch und mich; so aber stürzen wir alle ins Verderben.«
»O Bianka,« sprach Ludwig sanft, aber mit dem Tone der Kränkung; »darfst du wirklich von uns so unwürdig denken? Nein, dein Herz weiß nichts von dem,
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