1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
wenn ich sie ihm nur als hilflos Flehende entgegenstrecken könnte? Das darf nicht entscheiden; die Not soll mich nicht in seine Arme treiben, wenn es die Liebe nicht vermochte!« – »Du urteilst falsch, Marie«, erwiderte die Gräfin ruhig, aber mit überzeugendem Tone. »Es ist das höchste Glück der Liebe, Freude und Segen jeder Art ausströmen zu können. Der Edle rettet sein Glück am liebsten aus stürmenden Wellen, aus einem Schiffbruch des Lebens; ja, er möchte der Geliebten alles rauben, um sie mit allem neu ausstatten und schmücken zu können.«
»Die Liebende ,« antwortete Marie, »darf ein solches Opfer annehmen, wenngleich sie es lieber selbst brächte; doch wer nicht sein ganzes Herz zur Erwiderung geben kann, der darf es nicht – ich nicht.« Sie sprach diese Worte sehr sanft, aber mit Entschiedenheit; dann wandte sie sich wieder bittend zu der mütterlichen Freundin, damit sie gütig vermittelnd eintrete. »Sagen Sie ihm,« schloß sie, »daß ich ihm meine ganze Freundschaft weihe. Auch auf meine Dankbarkeit hat er ein Recht! Doppelt freundlich und schwesterlich will ich gegen ihn sein, weil ich ihm wehe tun muß – aber ich kann nicht anders, wahrlich, ich kann nicht!« Stumm weinend ruhte sie an dem Busen der Mutter, und diese suchte sie durch stumme Liebkosungen zu trösten; denn beiden versagten die Worte. Endlich trennten sie sich, um dem milden Arme der Nacht und des Schlummers die Beruhigung ihrer wallenden Herzen anzuvertrauen.
Drittes Kapitel.
Arnheim hatte geahnt, wie Marie fühle; deshalb kam er am nächsten Morgen zur Gräfin, um dieser Frau, deren mit Weiblichkeit gepaarte Würde jedem Vertrauen einflößte, seine Brust zu öffnen. Ernst, aber mit Fassung vernahm er die Entscheidung. »Ich hoffte kaum anders,« sprach er, »denn ich bin nicht an Glück und Freude gewöhnt; nur die Außenseiten des Lebens zeigen sich mir lockend, im Innern haben mich seine Stacheln schon oft im Tiefsten verwundet. Ich zürne ihr nicht; ich ehre ihren Beschluß. Doch vor ihr zu erscheinen, ist mir jetzt unmöglich. Einiger Tage bedarf ich, um die unruhigen Wellen meiner Brust zu besänftigen. Leben Sie wohl, Gräfin! Bevor ich ganz scheide, sehen Sie mich noch einmal.« Er ging.
Die trübe, bange Stille, welche seine Erscheinung auf einige Augenblicke unterbrochen hatte, kehrte neu zurück und lastete noch mit ängstlicherm Drucke als zuvor auf den Bewohnern des Hauses. Das Herz verlor die Kraft zu frohen Hoffnungen; die unheilvolle Nähe irgendeines Schrecknisses drang ahnungsvoll in die Seele. Man bebte vor der Zukunft, von der man dennoch die Erlösung aus dieser peinigenden Spannung erwartete.
Eines Morgens, es war der 10. Dezember, stand die Gräfin in ihrem Zimmer am Fenster und blickte, in trübes Sinnen verloren, auf die Gasse hinaus. Sie bemerkte ein unruhiges Wogen und Treiben; die Vorübergehenden eilten hastig die Straßen abwärts. Begegnende riefen einander an, schienen sich eine Nachricht von Wichtigkeit mitzuteilen und setzten dann ihren zuvor entgegengesetzten Weg gemeinsam nach ebender Richtung fort, wohin man ein eiliges Bewegen der Vorübergehenden wahrnahm. Es war das erste Beginnen eines durch eine bedeutungsvolle Begebenheit veranlaßten Zusammenströmens. In den letzten Tagen waren so manche dunkle Gerüchte in Umlauf gekommen, und unheilvolle Nachrichten, wie die Wegnahme von Minsk durch die Russen, hatten sich bestätigt. Die Gräfin ahnte daher Schlimmes; auch war sie sorgenvoller geworden durch das gänzliche Ausbleiben der Briefe ihres Bruders. Vor Lodoiska suchte sie zwar ruhig zu erscheinen, weil diese sich schon in einer Spannung befand, bei der man fürchten mußte, daß sie in die tödliche Aufregung ihrer Krankheit zurückfallen werde; doch im Innersten stiegen selbst ihrer heldenmütigen Seele düstere Ahnungen auf, die sie kaum den Mut hatte, sich als Möglichkeit fest vor Augen zu stellen. Daher erfüllte dieses Treiben und Bewegen auf der Gasse sie mit unruhigen Besorgnissen, und sie wollte eben dem Kammerdiener schellen, um nach der Veranlassung fragen zu lassen, als dieser eintrat und Arnheim meldete. »Sehr willkommen!« sprach sie erleichtert. Arnheim trat ein.
»In Ihren Mienen lese ich's,« rief sie ihm entgegen, »daß sich etwas Ungemeines begeben hat; seien Sie schnell damit, denn das drohende Schwert schreckt mehr als das gefallene. Was ist geschehen? Reden Sie, wir sind allein!«
»Das Ungeheuerste, was je die Weltgeschichte erlebt hat«,
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