1813 - Kriegsfeuer: Roman (German Edition)
würde er jemanden wie ihn finden.
Verzweifelt griff er nach der Hand des Freundes.
Duroc schlug die Augen auf. »Sire!«, sagte er und verzog das Gesicht vor Schmerz.
»Nennen Sie mich jetzt nicht bei meinem Titel, ich bitte Sie«, protestierte der Kaiser sanft. »Nennen Sie mich bei meinem Namen!«
Duroc tat ihm den Gefallen.
»Wissen Sie noch? Vor zwanzig Jahren, beim 4 . Artillerieregiment?« Ein verklärtes Lächeln trat auf Bonapartes Gesicht. »Wir waren junge, hoffnungsvolle Leutnants! Und was ist aus uns geworden! Wo haben wir überall gemeinsam gekämpft? Bis nach Ägypten sind wir zusammen gezogen!«
»Ja, Ägypten …«, sagte Duroc leise unter Schmerzen. »Doch
was ist
aus uns geworden? Aus unseren Idealen?«
Wieder schloss er die Augen. »Wir werden alle noch in diesem Krieg sterben.«
Stumm saß Napoleon da und ließ keinen Blick von dem Todgeweihten. Er, der brillante Rhetoriker, der Tausende Menschen mit seinen Worten mitreißen konnte, war unfähig, etwas zu sagen.
Endlich öffnete Duroc wieder die Augen und sah ihn an. Er hob die Hand ein wenig und deutete auf das Fläschchen mit dem Opium.
»Sire, bitte! Bereiten Sie meinen Schmerzen ein Ende.«
Bonaparte beugte sich auf seinem Stuhl leicht vor und umklammerte die kalte Hand des Sterbenden.
Nein, er würde ihn keine Minute eher gehen lassen, er konnte ihn nicht gehen lassen, sonst hätte er gar keinen Menschen mehr auf der Welt, dem er trauen durfte!
Alle belogen und betrogen ihn, heuchelten ihm etwas vor, während sie ihn zu vernichten suchten, oder schmeichelten ihm, um sich in seinem Glanz zu sonnen und zu bereichern.
»Nein. Ich lasse Sie nicht gehen, mein Freund!«, sagte er bestimmt und legte seinen Kopf auf die Hand Durocs, die er umklammert hielt.
Der Sterbende stöhnte.
Nach einer Viertelstunde konnte Napoleon Bonaparte, Herr über Leben und Tod von Hunderttausenden Menschen, die Qual dieses einen Mannes nicht länger ertragen.
Er würde den Vorwurf strikt von sich weisen, dass ihn Feigheit vom Sterbelager seines Freundes trieb. Nein! Wenn er ihn nicht sterben sah, durfte er vielleicht noch hoffen, dass ein Wunder geschah.
War sein Leben nicht überreich an wundersamen Wendungen?
Ließ sich das Schicksal nicht nur dieses eine Mal noch bezwingen?
Zutiefst erschüttert und bar jeder Vorstellung, wie er ohne den einzigen Vertrauten weiterleben sollte, verließ Napoleon das Hanspachsche Gehöft von Markersdorf. Die Männer, die draußen gewartet hatten, wichen zurück. Niemand wagte es, das Wort an ihn zu richten.
Beim Gehen hörte er hinter sich erneut die Tür knarren. Der Feldchirurg würde nun wohl wieder seinem Patienten Gesellschaft leisten.
Ruhelos schritt der dem Tod gegenüber machtlose Weltenherrscher vor seinem Zelt auf und ab. Er konnte jetzt weder zwischen den Leinwänden allein sein noch die Nähe anderer Menschen ertragen. Seine Haltung, seine Miene waren abweisend genug, um jedermann von sich fernzuhalten. Als die Sterne schon verblassten, unternahmen zwei seiner Adjutanten den vorsichtigen Versuch, sich zu erkundigen, wo bei Tagesanbruch die Gardeartillerie aufgestellt werden sollte.
»Morgen«, wies er sie schroff ab, drehte sich um und setzte seine ruhelose Wanderung fort wie ein Tiger im Käfig.
Vierzehn qualvolle Stunden dauerte der Todeskampf Durocs.
Als der Arzt kam und berichtete, es sei vorbei, nickte Napoleon mit steinerner Miene und starrte auf den weitesten Punkt in der Ferne, den er ausmachen konnte.
Minuten verstrichen tatenlos.
Dann trat er in das Zelt, in dem ihn sein Generalstab und die Marschälle erwarteten. Alle sahen auf ihn, niemand sagte etwas.
»Wir bieten einen Waffenstillstand an«, erklärte Napoleon Bonaparte und ignorierte die fassungslosen Blicke.
»Aber Sire, das wird uns zum Nachteil gereichen! So geben wir ihnen Kraft, sich zu erholen und neue Truppen heranzuziehen«, erlaubte sich Marschall Ney nach einem tiefen Atemzug einzuwenden.
Bonaparte sah ihm einen Augenblick lang kalt ins Gesicht. Dann brüllte er in die ganze Runde: »Habe ich mich nicht verständlich genug ausgedrückt?
Wir bieten einen Waffenstillstand an!
«
ZWEITER TEIL
SOMMER DES FRIEDENS UND DER LÜGEN
Husarenstreich
Zöllnitz, nahe Jena, 22 . Mai 1813
E s war noch sehr früh am Morgen; die Sonne ging gerade erst über dem kleinen thüringischen Dorf auf. Dennoch betrat der Rittmeister von Colomb die Schlafkammer des geräumigsten Bauernhauses im Ort, ohne anzuklopfen. Wegen seiner Größe
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