1813 - Kriegsfeuer: Roman (German Edition)
der französischen Marinegarde. Das war Napoleons bewährte und gefürchtete Elitetruppe zu Wasser und zu Land. In den letzten Wochen hatte sie von Dresden, Meißen und Torgau aus Proviant, Ausrüstung und Munition auf der Elbe herangeschafft, jetzt war sie dem Sechsten Korps von Marschall Marmont zugewiesen und biwakierte in Schönefeld nordöstlich von Leipzig, recht nah bei der Stadt.
Lucien – groß, dunkelhaarig, wettergegerbt – entstammte einer Seemannsfamilie aus Boulogne. Sein Vater war einst auf einem Handelsschiff gefahren. Aber es war Luciens ganzer Stolz, der berühmten Marinegarde anzugehören. Und selbstverständlich würden die beiden Söhne, die ihm seine Juliette schon geschenkt hatte, einmal auch der Marinegarde beitreten.
Bald würde sein drittes Kind zur Welt kommen. Er rechnete in Gedanken nach; in zwei oder drei Wochen könnte es so weit sein. Ob ihm Juliette diesmal ein Töchterchen oder wieder einen Sohn gebar? Wie mochte es ihr gehen?
Vielleicht war das Kind sogar schon auf der Welt. Es könnte Wochen dauern, bis er davon erfuhr. Die Feldpost kam nicht mehr so zuverlässig wie früher. Das war das Einzige, das ihn an der derzeitigen Lage störte.
Morgen würde die große, entscheidende Schlacht geschlagen. Die beste Gelegenheit für Heldentaten. Vielleicht gelang es ihm ja morgen, etwas so Außergewöhnliches zu vollbringen, dass er dafür das Kreuz der Ehrenlegion erhielt.
Das war sein großer Traum. Chancen dazu würden sich morgen bestimmt zuhauf bieten, sofern die Marinegarde nicht nur in Reserve stehen musste.
Wie stolz würde Juliette auf ihn sein! Und seine Söhne erst! Von der jährlichen Gratifikation könnten sie sich ihr Leben noch ein bisschen schöner einrichten.
Morgen, das war seine feste Überzeugung, war ein Tag für Helden.
Ebenfalls dem Korps Marmont zugehörig, aber alles andere als eine Eliteeinheit war das Spanische Strafbataillon, und dessen anerkannt größte Plage ein fünfundzwanzigjähriger Voltigeur namens Pícaro, Schelm. Gerade rannte er durch das Biwak und schwenkte etwas Pelziges wie eine Trophäe über dem Kopf – vielleicht ein Eichhörnchen oder irgendein anderer kleiner Nager. Am Feuer seiner Kochgemeinschaft hielt er an und schrie seinen abgehängten Verfolgern lachend »Cabrones!« hinterher.
»Mit wem hast du dich nun schon wieder angelegt?«, wollte sein Kamerad Pepe wissen. »Doch nicht etwa mit der Marinegarde?«
Pícaro grinste. »Frage nichts, was du nicht wissen musst!«
So dumm war er nicht, um sich mit der Marinegarde anzulegen. Es gab genug Tölpel in der französischen Armee, die leichtere Beute waren. Aber sollten die anderen nur staunen, was er sich alles traute. Er gab das erbeutete Eichhörnchen Pepe, damit der es häutete, und holte aus seinem Tornister eine Handvoll Kartoffeln und ein schon zur Hälfte gerupftes Huhn hervor, das er am Nachmittag erbeutet hatte. »Das gibt eine schöne Suppe. Weil es ja vielleicht unsere Henkersmahlzeit ist. Bin ich nicht großartig?«
»Pícaro, alle Sünden seien dir auf ewig verziehen, weil wir hier dank dir besser essen als die Offiziere«, meinte lachend Paco, sein bester Freund. »Aber irgendwann wird es noch ein schlimmes Ende mit dir nehmen!«
»Ist das hier nicht schon schlimm genug?«, brummte Pícaro, der eigentlich Nicolás Sastre hieß, was kaum jemand wusste. Er war ein Dieb und aus dem Gefängnis für das spanische Regiment namens Joseph Napoleon rekrutiert worden. Als Napoleons Truppen in Spanien einmarschierten, befand sich dieses Regiment in Dänemark. Die spanischen Soldaten wurden entwaffnet und eingesperrt, als Gefangene nach Frankreich gebracht und vor die Wahl gestellt: Regiment oder Galeere.
Der Krieg bedeutete Pícaro nicht mehr als eine Gelegenheit, Beute zu machen. Und es den Franzosen mit vielen kleinen Racheakten heimzuzahlen, dass er für sie kämpfen musste. Sein Bataillon galt hier als Abschaum. Da sollte sich keiner wundern, wenn morgen in der Schlacht einen der Offiziere, die sie am meisten schikanierten, eine Kugel von hinten traf.
Von Stötteritz nach Schönefeld abkommandiert wurden an diesem 15 . Oktober auch die sächsischen Kürassiere unter dem Kommando des Generals Latour-Maubourg. Sobald sie ihr Biwak erreicht, die Koppeln eingerichtet und die Pferde versorgt hatten, brachten sie Helme und Brustpanzer auf Hochglanz, wie es sich vor der Schlacht gehörte.
Als es langsam dunkelte, holte der Zastrow-Kürassier Johann Gottfried Enge aus
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