1813 - Kriegsfeuer: Roman (German Edition)
brüllte zurück, sie müssten alle zum Ranstädter Steinweg, das sei der einzige Ausgang.
Einige der Soldaten trieben auch noch Kühe, Ziegen oder anderes Vieh vor sich her.
Zivilisten versuchten, aus der Stadt zu flüchten, die bald gestürmt werden würde. Furcht und Verzweiflung standen in ihren Gesichtern. Manche trugen ein Bündel in der Hand, andere schoben einen Karren, der unversehens den Besitzer wechselte. Geschrei um dreisten Diebstahl kam auf, lautstarke Drohungen bewaffneter Gardisten … Kurz hintereinander dröhnten mehrere Explosionen; die Franzosen sprengten Munitionswagen, die sie nicht mitnehmen konnten.
Das gab den Gerüchten Nahrung, die Franzosen planten, die ganze Stadt zu zerstören, ehe sie den Alliierten in die Hände fiel. Immer wieder lief Henriette an ratlosen Stadtbewohnern vorbei, die darüber stritten, ob es wohl besser sei, zu bleiben und seinen Besitz zu verteidigen oder den Kriegsschauplatz zu verlassen und wenigstens das nackte Leben zu retten.
Verängstigt schob sie sich an den Wänden entlang, um nicht von der kopflosen Menschenmenge zu Boden getrampelt zu werden. Den Henkelkorb mit dem kostbaren Brot presste sie an sich. Breitschultrige Männer rempelten sie an oder drückten sie rücksichtslos beiseite. Doch Schritt für Schritt kämpfte sie sich voran.
Als sie den Markt erreichte, glaubte sie, ihr Herz müsse vor Entsetzen gefrieren. Es waren über Nacht noch so viele Verwundete dazugekommen, dass nicht nur unter den Kolonnaden jeder Platz bis in die kleinste Ecke besetzt war. Die ganze Wegstrecke bis zur Thomaskirche war voll von Menschen mit schrecklichen Wunden und in blutdurchtränkten Uniformen. Sie krümmten sich zwischen Toten oder hatten sich über die Toten geschoben, um nicht in der Oktoberkälte auf den Pflastersteinen liegen zu müssen; sie flehten die Passanten an, ihnen zu helfen. Einer bot sogar Geld, versprach jedem Reichtum, der ihn bei sich aufnehmen und ihm einen Arzt holen würde. Doch die meisten – ob nun Bürger, Soldaten oder Offiziere – schritten nicht nur ungerührt an ihnen vorbei, sondern manchmal sogar über sie hinweg. Schlimmer noch: Trainwagen mit prächtigen Wappen, Geschütze und voll beladene Marketenderkarren wurden über den Markt gezogen und gezerrt, und es kümmerte niemanden, ob unter ihren Rädern Leichname oder noch Lebende zermalmt wurden.
Die apokalyptischen Reiter, dachte Henriette schaudernd. Hunger, Krieg, Tod und Tyrannei …
Auch die Thomaskirche war überfüllt mit Verwundeten. Doch hier lagen, abgesehen von ein paar frisch Amputierten, überwiegend Männer, die an schwerem Lazarettfieber oder am Starrkrampf litten. Schon in der Nähe des Eingangs sah Henriette zwei solcher Kranken, deren Rücken in beängstigendem Winkel nach hinten durchgebogen waren. Sie würden sich die Wirbel brechen. Oder ersticken. Es gab keine Hilfe für sie.
Für wen gab es hier überhaupt noch Hilfe?
Sie flößte denjenigen Wasser ein, die noch bei Bewusstsein waren. Dann ging sie zum Wundarzt und fragte, ob sie nach den Verwundeten schauen durfte, die auf dem Markt und vor der Kirche lagen. Vielleicht ließe sich mancher noch retten.
Der Arzt sah sie mitleidig an und warf einen kurzen Blick auf die beiden Kärrner, die schon wieder Tote aus der Kirche trugen, obwohl ihnen klar sein müsste, das jetzt niemand mehr aus der Stadt herauskam. Aber Hauptsache, sie waren die Toten hier los.
»Gehen Sie, Fräulein, wenn Sie meinen, dort etwas ausrichten zu können«, erlaubte er ihr scheinbar gleichgültig. Er war so übermüdet, wie sie es von Dr. Bursian und Dr. Meuder kannte. Sein Tonfall und seine Augen sagten ihr, dass er keine Hoffnung mehr besaß.
Aber woher sollte jemand auch noch Hoffnung nehmen, der gesehen hatte, was sie hier sahen?
Die Flucht
Leipzig, 19 . Oktober 1813
D ie Mission der beiden städtischen Parlamentäre verlief nicht nach den Wünschen Napoleons .
Der Landsteuereintreiber August Wichmann war halb neun ins Rathaus geholt worden und erfuhr zu seinem Entsetzen, dass ausgerechnet er aufs Schlachtfeld hinausreiten und den Fürsten von Schwarzenberg um Schonung für die Stadt bitten solle.
Also forderte er Begleitpapiere, einen Offizier und einen Trompeter und machte sich mit weichen Knien auf den Weg.
Nach einem langen, nicht ungefährlichen Ritt und über viele Zwischenstationen wurde er schließlich zu den alliierten Herrschern und zum Oberbefehlshaber Schwarzenberg geführt.
Als Erstes musste er sich von dem
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