1813 - Kriegsfeuer: Roman (German Edition)
Stück. »Sind Sie verletzt?«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Nee. Isch kann net mehr. Fünf Daach ohne was zu fresse …«
»Trinken Sie! Und essen Sie ein wenig Brot. Sie müssen fort aus der Stadt.«
Vergeblich versuchte sie, in dem jäh anschwellenden Lärm etwas vom Kampfgeschehen auszumachen.
»Isch glaab, jetz breche se dorsch«, murmelte der Stehende, der erklärte, sie kämen aus Hessen-Darmstadt. Henriette drückte auch ihm einen Kanten Brot in die Hand und drängte: »Gehen Sie, rasch! Über den Ranstädter Steinweg kommen Sie noch hinaus.«
Es würde heute viele Tote geben, auch ohne diese beiden fast verhungerten Hessen.
Ein paar Schritte links von sich sah sie einen sächsischen Offizier, der zwei versprengte Husaren aufforderte, sich vor dem Haus des Königs zu dessen Schutz einzufinden.
Die Spanier hatten inzwischen ihren Hammel siegreich gegen den Dragoner verteidigt und zerrten ihn mit sich weg.
Ein paar Schritte weiter brachte eine Marketenderin mit lautem Geschimpfe ihr Pferd dazu, den Karren zu ziehen.
Als der Wagen fortrollte, entdeckte Henriette dahinter zwei Kürassiere, sächsische Kürassiere. Einer von beiden saß totenbleich im Sattel, den linken Fuß nicht im Steigbügel, sondern das Bein hochgelagert und mit einem blutdurchtränkten Verband umwickelt.
Erst den anderen, der das Pferd am Zügel führte, erkannte sie und begriff: Das waren jene beiden, die für eine Nacht bei den Gerlachs in Freiberg einquartiert waren. Sie rief sie beim Namen und lief ihnen entgegen. Der verletzte Wachtmeister erkannte sie nicht.
Doch sein jüngerer Gefährte staunte. »Sie in Leipzig, Fräulein Gerlach?«
»Trinken Sie, Sie müssen jetzt viel trinken!«, ermutigte sie den Verwundeten und reichte ihm einen Becher voll Wasser. Dann gab sie beiden von dem Brot.
»Jetzt erkenne ich Sie«, sagte Johann Enge mit kraftloser Stimme. »Gott hat Sie wohl geschickt, damit Sie uns helfen?«
Verbittert deutete er auf sein durchschossenes Bein. »Nach Moskau und zurück habe ich es geschafft, durch die eisige Beresina und alle Schlachten. Und jetzt, fast am letzten Tag, erwischt es mich … Noch dazu die eigenen Leute! Die hielten uns für Österreicher, diese französischen Tölpel!« Nun stiegen ihm Tränen in die Augen.
Die Eichenblätter vom Helm seines Offiziers brachten ihm also doch kein Glück, dachte Jette bedrückt.
»In den letzten drei Tagen hat es uns fast alle erwischt. Von den sächsischen Kürassieren, dem Stolz des Vaterlandes, ist kaum noch einer übrig«, klagte Heinrich Franke.
»Aber Sie leben!« Henriette legte alle Überzeugungskraft in ihre Worte, die sie noch aufbringen konnte, um den beiden Mut zuzusprechen. »Heute irgendwann wird der Krieg vorbei sein, und dann können Sie sich zu Hause gesund pflegen lassen.«
»Der Krieg ist nie vorbei, Fräulein! Dies hier wird heute vielleicht das Ende für Leipzig, aber nicht das Ende des Krieges«, widersprach Enge bestimmt.
Nun lauschte auch er, um an den Kampfgeräuschen etwas erkennen zu können.
»Wir reiten jetzt wohl besser auch vor das Haus des Königs. Da sammelt sich alles, was von unserer Armee noch übrig ist. Gott schütze Sie, kleines Fräulein! Sie und unseren König.«
Der Krieg endet heute immer noch nicht?, dachte Henriette bestürzt, während sie weiter durch die Gassen in der Nähe der Thomaskirche streifte. Sie gab einem weinenden Jungen mit blondem Haar etwas Brot, der es hungrig in sich hineinstopfte und ihr erzählte, er habe seinen Hund in dem Gedränge verloren.
»Geh nach Hause, hier wird es sonst zu gefährlich für dich!«, mahnte sie. »Dein Hund kennt den Weg und findet sich schon wieder ein.« Dabei hoffte sie, dass das Tier nicht längst in irgendeinem Kochkessel gelandet war.
Neben ihnen begann ein Laternenanzünder eine gefährlich aussehende Rangelei mit einem Sappeur , der eine Laterne beschädigt hatte, auf der anderen Seite stand eine französische Militärkapelle, deren Tambour laut brüllte: »Die Musik ist aus! Finissez! Hauen wir ab!«
Sie gab einem Dragoner etwas zu trinken, der sich vor Erschöpfung schon aufgegeben hatte und lethargisch an einer Wand lehnte. »Verlassen Sie die Stadt!«, mahnte sie. »Dann werden Sie leben.«
In einem Dachfenster sah sie einen Mann stehen, der sich zum Schutz vor Kugeln und Trümmern eine Matratze über den Kopf gelegt hatte und fieberhaft etwas auf Papier kritzelte.
»Ja, mal das auf, Geißler!«, schrie ihm eine Frau mit kräftiger Stimme zu.
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