1813 - Kriegsfeuer: Roman (German Edition)
Witwe sehr entschieden.
Was meinte sie damit?
»Dieser General und seine Männer, denen ja nichts gut genug war, haben in der Nacht die Stadt verlassen«, sagte die Wirtin naserümpfend. »Sie bringen sich in Sicherheit, und ihre Soldaten lassen sie zurück. Aber« – nun zog ein verschmitztes Lächeln über das faltenzerfurchte Gesicht – »das ermöglicht uns ein gutes Frühstück. Jedenfalls ein nach
derzeitigen
Maßstäben gutes Frühstück.«
Sie nötigte Henriette, sich in den Salon zu setzen, bot ihr heißen Kaffee an – wie lange hatte sie keinen mehr getrunken! – und Zwieback, Pflaumenmus und ein gekochtes Ei.
»Ich weiß, die Pflicht ruft. Aber Sie müssen essen!«, redete die Witwe ihr zu. Wie immer trug sie ein schwarzes Kleid, diesmal aber eines mit weißen Spitzen.
Sie setzte sich Henriette gegenüber, nippte am eigenen Kaffee und fragte nach einem Hüsteln mit ungewohnt gedämpfter Stimme: »Dort in Sankt Thomas sind Sie doch dauernd mit den Franzosen zusammen. Da hören Sie sicher so manches. Meinen Sie, wir werden verschont, wenn die Stadt heute gestürmt wird?«
»Die Franzosen, mit denen ich zu tun habe, liegen im Sterben.«
»Dann sei Gott ihnen gnädig!«, murmelte die Witwe sichtlich enttäuscht.
Sie schien sich erst ein bisschen überwinden zu müssen, doch dann gab sie zu: »Man schämt sich ja selbst, mitleidlos an diesen armen Gestalten vorbeizugehen, die trotz ihrer schrecklichen Wunden die Nacht auf dem kalten Straßenpflaster zubringen müssen. Der Anblick ist einfach zu grauenvoll! Aber sie haben es einfach zu toll getrieben in Leipzig, dieser Bonaparte und seine Armee. Und jetzt wird vielleicht sogar noch die ganze Stadt ihretwegen zerstört. Gott steh uns allen bei!«
Sie strich sich über die Augen. »Was wird aus all den Verwundeten, wenn die Alliierten erst hier einmarschiert sind?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Henriette mit hilflosem Schulterzucken. »Die meisten von ihnen haben ohnehin keine Chance zu überleben.«
Sie stellte ihre Tasse ab und erhob sich. »Ich muss gehen. In ein paar Stunden werden sicher viele preußische und russische Verwundete gebracht. Vielleicht können wir wenigstens einige retten.«
Die Witwe sah überrascht auf. »Sie kümmern sich also nicht nur um die Franzosen?«
»Was denken Sie von mir! Natürlich sorge ich mich um jeden, der ins Lazarett gebracht wird und Hilfe braucht. Es sind Leidende, Sterbende, da spielt es keine Rolle, woher sie stammen. Nur, leider können wir kaum helfen – ohne Leinen, ohne Medikamente, ohne Essen …«
»Warten Sie!«, forderte die Witwe sie auf, ging aus dem Salon und kam mit etwas Rundem in der Hand zurück, das in Leinen eingeschlagen war.
»Ein Brot, das letzte. Es ist schon vier Tage alt und etwas hart. Aber geben Sie es ruhig denen, die es am dringendsten benötigen.«
Jette widersprach lächelnd. »Mein Vater sagte immer: Altes Brot ist nicht hart. Kein Brot – das ist hart!«
Glücklich drückte sie den runden Laib an sich. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll. Aber ich verspreche Ihnen, ich werde es an die verteilen, die es am nötigsten brauchen.«
»Nun machen Sie keine große Affäre daraus«, meinte die Witwe verlegen. »Vielleicht kann ich altes Weib auf diese Art mein schlechtes Gewissen ein wenig beruhigen, weil ich so herzlos über die armen Kreaturen hinweggestiegen bin …«
Kanonendonner setzte ein, ließ den Fußboden beben und die Fensterscheiben klirren.
»Mein Gott, es geht los!«, rief die Witwe bestürzt und verknotete die Hände vor der Brust. »Heute wird die Stadt gestürmt. Nur der Allmächtige weiß, was uns bevorsteht.«
Nun lief eine Träne aus ihrem Augenwinkel, und ihre Stimme zitterte, als sie sagte: »Kommen Sie gesund und lebendig heute Abend hierher zurück! Vielleicht, so Gott will und dieses Haus dann noch steht, zünden wir eine Kerze an auf die friedlichen Zeiten, die dann beginnen mögen.«
Von einer plötzlichen Anwandlung ergriffen, nahm Henriette die Hände der Frau im schwarzen Kleid und drückte sie.
Auf den Straßen herrschten ein solcher Lärm und ein unvorstellbares Gedränge und Geschiebe, dass kaum ein Durchkommen möglich war. Von den Äußeren Stadttoren klangen Schüsse, Kugeln schwirrten durch die Straßen, alles war mit französischen Militärs verstopft, die einen Weg aus der Stadt suchten, ohne zu wissen, in welche Richtung sie gehen sollten. Jemand brüllte, sämtliche Stadttore seien verschlossen, ein anderer
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