1813 - Kriegsfeuer: Roman (German Edition)
»Damit auch später jeder sehen kann, was sich hier abgespielt hat!«
Ein Maler, begriff Henriette verblüfft.
Auf dem Weg zurück zur Kirche sah sie einen Anschlag des Magistrats an einer Wand. Sie blieb kurz stehen und las: Die erneute Aufforderung, Bürger sollten für die Verwundeten Tongeschirr, Suppenschalen, Decken und Bettgestelle spenden. Ein Mann in einem grauen Mantel und mit grauem Zylinder gesellte sich zu ihr; der Stadtschreiber, der gestern von den drei aufgebrachten Frauen ausgefragt worden war. »Sie gehen herum und helfen, das ist sehr löblich«, sagte er. Offenbar hatte er sie beobachtet.
»Ich helfe im Lazarett. Aber was sollen wir mit Schüsseln, wenn wir kein Essen haben? Zuallererst brauchen wir Decken und Leinen zum Verbinden.«
Sie sah, dass er sich etwas notierte.
»Wenn es kein Leinen gibt, können wir uns auch mit Papier behelfen. Das ist immer noch besser als nichts.«
Artur Reinhard Münchow sah sie zweifelnd an. »Ich bin Stadtschreiber, wir müssen für die Nachfahren alles schriftlich festhalten, was in dieser Stadt geschieht!«, sagte er voller Überzeugung. Er konnte doch die Ratsunterlagen nicht als Verbandsmaterial herausgeben!
»Werden Sie jemals vergessen, was Sie heute sehen?«, fragte Henriette ihn provozierend. »Und wann sonst haben Sie Gelegenheit, mit Papier Leben zu retten?«
Sie ließ den nachdenklichen Stadtschreiber stehen und ging zum Brunnen, um ihre Flasche mit frischem Wasser zu füllen.
Die Schüsse und die Schreie waren nun ganz nah – die Alliierten mussten die Tore durchbrochen haben. Aus jedem Fenster starrten die Bewohner und verfolgten das Geschehen auf den Straßen in der Hoffnung, in ihren Häusern seien sie geschützt.
Sie sollte jetzt besser zurück in die Kirche gehen. Bald würden wohl die ersten preußischen, russischen und österreichischen Verwundeten gebracht.
Aber es lagen noch so viele Blutüberströmte hier draußen! Zögernd ging sie ein paar Schritte auf sie zu, um zu schauen, wer vielleicht eine Überlebenschance hatte.
Und da hörte sie jemanden ihren Namen rufen.
Heiser, verzweifelt, mit brüchiger Stimme.
»Angrijett!«
Jette fuhr herum und schrie vor Entsetzen auf. Eine der halb toten Gestalten auf der Straße war Étienne. Ein großer Blutfleck auf der Brust hatte seine Uniformjacke verfärbt, sein Gesicht war hohlwangig, grau und durch die dunklen Bartstoppeln kaum wiederzuerkennen.
Sie rannte zu ihm und fühlte besorgt seinen Puls. Dann richtete sie ihn vorsichtig auf, während sie beruhigend auf ihn einsprach, und flößte ihm etwas zu trinken ein. Er musste viel Blut verloren haben.
»Ich bringe Sie zum Chirurgen, gleich wird alles gut«, flüsterte sie wieder und wieder und gab sich alle Mühe, nichts von ihrer Verzweiflung durchklingen zu lassen. Suchend blickte sie um sich. Allein konnte sie ihn nicht tragen, aber sie durfte jetzt auch nicht von ihm weggehen, sonst würde er vielleicht gerade in diesem Moment sterben.
»He, Sie da!«, fuhr sie die ersten beiden französischen Soldaten an, die in der Nähe standen. »Helfen Sie Ihrem Offizier ins Lazarett, sofort!«
Die Soldaten zeigten wenig Neigung, aber Jette schrie sie so energisch an, dass sie wider Erwarten gehorchten.
»Vorsichtig!«, mahnte sie und sprach in Gedanken ein Gebet, dass einer der Operationstische frei war.
»Bringen Sie ihn dorthin!« Die Soldaten legten den verwundeten Premier-Lieutenant ab und verschwanden eiligst, ehe man sie mit noch mehr Arbeit eindeckte.
»Seit wann?«, fragte sie Étienne und konnte die Tränen kaum zurückhalten.
»Gestern. Die mich nach Leipzig brachten, machten sich aus dem Staub. Es waren blutjunge Burschen … Sie hatten wohl genug vom Krieg …« Er atmete röchelnd und unter Qualen. »Dich noch einmal zu sehen … bevor ich sterbe … war alles, was ich mir wünschte …«
Ihn über seinen Tod reden zu hören brach Henriette das Herz.
»Nicht sterben!«, widersprach sie unter Tränen. »Nicht sterben! Ich hole einen Chirurgen …«
Verzweifelt sah sie sich um. Dr. Multon, der Erste Wundarzt, kam auf sie zu.
»Was gibt es hier?«, fragte er sachlich.
»Die Kugel steckt noch in der Brust. Bitte tun Sie, was Sie können«, flehte Henriette. »Er ist ein guter Freund meiner Familie!«
Ohne ein weiteres Wort öffnete Multon die Uniform und löste das angeklebte Unterhemd von der Wunde.
Henriette reichte ihm die Sonde, mit der er die Kugel entfernen konnte. Zwei kräftige Helfer drückten Étiennes
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