1813 - Kriegsfeuer: Roman (German Edition)
würde ich ja viel lieber Gedichte schreiben, eine Familie gründen, ein friedliches Leben führen. Ihnen fünfhundert Jahre alte Lieder der Troubadoure in fast vergessener Sprache vortragen. Aber ich weiß nicht einmal, wie Frieden aussehen könnte. Ich wurde drei Jahre nach der Revolution geboren. Seit ich denken kann, gab es immerzu Krieg … Manchmal muss ich mich erst daran erinnern, wofür wir kämpfen: für den Kaiser, der unserer Familie Adelstitel und Land gegeben hat, für Frankreich, für das Ende des Krieges.«
Er lächelte vage. »Für Sachsens Befreiung von Preußen …«
Nun trat er wieder auf sie zu. »Wann soll die Zeit dafür sein, wenn nicht jetzt?«, fragte er. »Ich fürchte nicht, dass ich sterbe, Henriette. Nicht dieses Mal. Der Kaiser ruft alle verfügbaren Truppen zusammen und wird den Feind vernichtend schlagen. Es gibt keinen größeren Feldherrn als ihn, keine größere Auszeichnung, als vor seinen Augen in den Kampf zu ziehen. Der Sieg ist uns gewiss. Doch braucht nicht jeder Soldat ein wenig Ermutigung aus dem Hinterland? Nehmen Sie sich Zeit bis zu meiner siegreichen Rückkehr, um über meinen Antrag nachzudenken. Aber den Gefallen mit der Haarsträhne dürfen Sie mir nicht verwehren!«
»Ich glaube nicht, dass wir einander gut genug kennen für eine solch verbindliche Geste«, wehrte sie ab. »Sie bringen mich ins Gerede! Wir sind jetzt ohnehin schon viel zu lange ohne Zeugen zusammen …«
Étienne zuckte mit den Schultern und wies mit dem Arm durch den Raum. »Dies ist eine Buchhandlung. Ich könnte ein Käufer sein.«
Dann beugte er sich über den Ladentisch und nahm ihre Hände erneut zwischen seine. Jette erschauderte, als sie sich vorstellte, wie diese Hände mit dem Degen auf jemanden einstachen.
»Ich bin enttäuscht, dass Sie mich so hartnäckig abweisen. Aber ich will Sie weder bedrängen noch Ihren Ruf in Gefahr bringen. Sagen Sie ehrlich, dass Sie nichts für mich empfinden, dann wird es mir nicht viel ausmachen, wenn ich in der nächsten Schlacht sterbe.«
»Ich möchte nicht, dass Sie sterben«, entgegnete sie leise. »Wirklich nicht.«
Sie konnte ihn nicht hassen. Aber sie konnte ihn auch nicht lieben. Sie
durfte
ihn nicht lieben. Das Land sollte frei sein von den Besatzern.
»Kehren Sie gesund zurück! Ich werde für Sie beten.« Das war alles, was sie ihm gewähren konnte.
»Das ist doch schon ein Anfang«, sagte er froh.
Unversehens wurde Étiennes Gesicht wieder ernst.
»Etwas in dieser Art sollten Sie auch sagen, wenn ich mich nachher von meinem Vater verabschiede. Und wenn Sie mir jetzt kein Zeichen Ihrer Gunst erweisen wollen, tun Sie es dann! Erlauben Sie mir einen Kuss auf Ihre Wange, als seien wir viel vertrauter miteinander, als wir tatsächlich sind. Lächeln Sie mich an! Die Leute werden reden, aber sie hören auch wieder auf. Ich schwöre Ihnen bei allem, was mir heilig ist: Ich will Sie nicht belügen, kompromittieren oder ausnutzen. Lassen Sie uns dieses kleine Täuschungsmanöver verabreden, um meinen Vater von Ihnen fernzuhalten.«
Jette überlegte. Der Aufruhr wäre gewaltig, darüber gab sie sich keinen Zweifeln hin. Vielleicht war sie zu arglos, diesem Seconde-Lieutenant glauben zu wollen, der sich so aufrichtig und verliebt gab. Aber ihre Angst vor seinem Vater war größer als die Angst vor dem Skandal.
»Gut«, sagte sie zögernd und versuchte, in seinem Gesicht die Bestätigung zu finden, dass er es ehrlich meinte.
Étienne strahlte. »Dann gibt es jetzt also eine heimliche Alliance zwischen uns«, frohlockte er.
»Wir haben eine Absprache«, stellte sie nüchtern klar.
Als Étienne gegangen war, blickte Jette ihm durchs Fenster nach und kämpfte darum, ihre Gefühle zu ordnen. Doch dazu blieb ihr keine Zeit, denn sie entdeckte Felix und Richard, die über den Untermarkt liefen, genau auf die Buchhandlung zu.
»Gott zum Gruße, Fräulein Henriette«, sagten die beiden gegensätzlichen Freunde beim Eintreten wie aus einem Munde und starrten sie mit einem ganz besonderen Gesichtsausdruck an, den sie nicht zu deuten wusste, beinahe feierlich. Wieder hielt Felix seine Mappe mit den gepressten Blüten unter dem Arm, nur trug heute keiner von ihnen den schwarzen Bergkittel.
»Sie kommen wegen der Neuübersetzung des Agricola? Hier ist sie!«
Mit einem Lächeln schob sie Felix das Buch hinüber, dem noch der frische Leimgeruch aus der Binderei anhaftete.
»Können Sie es mir aufheben, bis ich wiederkomme?«, fragte Felix
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