1813 - Kriegsfeuer: Roman (German Edition)
sie dich wie eine junge Dame behandeln. Sag mir, wenn er dich bedrängt! Wir sind Verbündete der Franzosen, kein besetztes Land. Und unsere Frauen sind kein Freiwild. Wenn dieser Major sich dir gegenüber ungebührlich benimmt, kann ich mich beim Stadtkommandanten beschweren.«
»Nein, das kannst du nicht! Sonst verlierst du deine Lizenz!«
Stur sah Jette dem Onkel ins Gesicht. Sie sagte die Wahrheit, das wussten sie alle drei.
»Sein Sohn kam heute Morgen in die Buchhandlung. Er wollte ein Liebespfand von mir, aber ich gab ihm keines. Zwischen uns ist nichts passiert. Ich empfinde nichts für ihn«, beteuerte sie und fragte sich, ob das wirklich stimmte. »Da sagte er, sein Vater habe weniger ehrliche Absichten mir gegenüber. Aber der Major würde mich in Ruhe lassen, wenn er glaubte, ich hätte eine Liaison mit seinem Sohn. Es sei ein kleines Schauspiel zu meinem Schutz.«
Einen Augenblick lang sagte niemand etwas. Dann ließ sich Johanna spitz vernehmen: »Ich hab es ja gleich gesagt: Wir können das Mädchen nicht in den Laden stellen, das bringt nur Unglück …«
»Wäre es dir lieber, das alles hätte hier oben stattgefunden?«, widersprach Jette. »Die Buchhandlung ist für jedermann offen, und wenn es gefährlich wird, kann ich immer noch Ludwig um Hilfe rufen.«
»Du darfst weiter dort arbeiten, wenn du das möchtest«, entschied der Onkel, ließ sich in den breiten Sessel fallen, der am Fenster stand, und rieb sich die Stirn. »Ich glaube, der beste Weg, das Gerede der Leute zu unterdrücken, ist, ganz normal weiterzumachen. Die meisten sind klug genug, um zu erkennen, in welchen Zwängen wir stecken, denn ihnen geht es nicht anders. Genau genommen ist doch nichts vorgefallen.«
»Da bin ich mir gar nicht sicher!«, wütete die unversöhnliche Tante. »Ich fürchte, ihr Ruf ist für alle Zeit dahin, und unserer auch. Das Liebchen des französischen Seconde-Lieutenants …« Konsterniert schüttelte sie den Kopf und schneuzte sich erneut.
»Was hätte ich denn tun sollen? Hätte ich ihn etwa auch totschlagen sollen?«, schrie Jette ihren Verwandten entgegen, die entsetzt verstummten. »Ist es nicht vollkommen gleichgültig, was die Leute denken? Es ist Krieg, Menschen bringen einander um, die sich überhaupt nicht kennen und einander nichts getan haben! Das Land ist kahl geplündert, und es wird
nie
Frieden werden. Vor kaum zwei Wochen eine große Schlacht, in ein paar Tagen die nächste … und noch eine und noch eine … bis sich alle gegenseitig niedergemetzelt haben! Die Welt geht unter in Blut und Schmerz. Wen kümmert da, was die Nachbarn denken?«
Sie barg das Gesicht in den Händen, ließ sich auf die Récamiere sinken und schluchzte hemmungslos.
Eine Weile herrschte Stille im Raum, abgesehen von Jettes Weinen.
Dann räusperte sich Friedrich Gerlach und sagte zu seiner Frau: »Würdest du uns bitte allein lassen?«
Wider Erwarten war Johanna nicht gekränkt. Sie wusste, das nun folgende Gespräch war überfällig und duldete keinen Aufschub. Viel zu lange hatte sich das Mädchen herumgequält mit dem, was sie in Weißenfels und seit der Flucht erlebt hatte. Sie musste darüber sprechen. Und dabei brauchte sie die Ruhe und Weisheit ihres Onkels und nicht die Aufgeregtheit und Impulsivität der Tante.
Johanna hatte keine Ahnung, womit ihr Mann das arme Mädchen nun trösten wollte, welche Antworten er für sie hatte. Aber sie vertraute fest darauf, dass er Antworten finden würde.
»Wie soll man so leben? Ich weiß nicht einmal mehr, wie ich Freund und Feind auseinanderhalten soll«, flüsterte Jette, als der Weinkrampf endlich nachließ. Ihr Oheim war zu ihr getreten und hatte ihr einfach nur eine Hand auf das Haar gelegt. Es war, als würden von dieser Hand Ruhe und Wärme in ihren Körper fließen.
»Die Franzosen sind unsere Verbündeten. Doch sie benehmen sich nicht so«, fuhr sie fort. »In Wahrheit sind sie unsere Feinde. Wir müssen sie aus dem Land vertreiben. Aber Étienne hat mir nichts Böses getan. Oder hat er mich hintergangen? Und was ist mit den Preußen? Sind
die
unsere Freunde? Wenn es in ein paar Tagen die große Schlacht bei Bautzen gibt, von der alle reden, dann schießen vielleicht die Männer, die ich in Weißenfels gesund pflegte, auf diejenigen, denen ich hier auf dem Marktplatz half. Habe ich mit so viel Mühe Leben gerettet, damit am Ende die einen Überlebenden die anderen töten?«
Nun sah sie auf, dem Onkel direkt ins Gesicht, der die Hand von ihrem
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