1843 - Die Falle der Sensenfrau
lachen wollen, dann hielt er sich zurück. Er wollte nichts provozieren und fragte mit einer etwas leiseren Stimme: »Wo ist das?«
»In meiner Welt.«
»Und wer bist du?«
»Du kennst mich.«
»Nein, nein, ich sehe dich heute zum ersten Mal. Das ist nicht wahr, dass wir uns schon begegnet sind.«
»Doch!«
»Und wann?«, höhnte Julian. Er war sauer, er war wütend, er fühlte sich an der Nase herumgeführt.
»Vor Kurzem noch. Du hasst mich. Du möchtest mich am liebsten vernichtet sehen.«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Aber ich spüre es. Du würdest mich am liebsten in Stücke schneiden und den Raubtieren zum Fraß vorwerfen. Aber das hast du nicht geschafft. Es war dein Pech. Es wird dein Pech bleiben, und ich werde dir zeigen, wer ich wirklich bin.«
Julian hatte alles gehört, aber nichts begriffen. Er konnte die Rätsel nicht lösen, aber er sah, dass sich die Frau veränderte. Das betraf nur ihr Gesicht. Dort zog sich etwas in die Breite, auch in die Länge, und es entstand ein anderer Ausdruck. Das Haar lichtete sich, die Augen wurden kleiner, aber der böse Ausdruck darin war genau zu erkennen. Die Lippen lagen aufeinander und bildeten einen Strich. Scharf spannte sich die Haut über die Knochen. Das Gesicht war nicht mehr das einer Frau. Es glich jetzt dem eines Mannes, und Julian wollte es nicht glauben, aber es ging kein Weg daran vorbei. Es war das Gesicht eines Mannes, sogar einer Gestalt, die er gut kannte.
Das war nicht mehr die Sensenfrau. Zwar hielt die Gestalt die Sense fest, aber ihr Gesicht war ein anderes geworden, und das kannte Julian auch.
Es gehörte Sariel!
»Damit hast du nicht gerechnet – oder?«
Julian schüttelte den Kopf und bemühte sich, seine weichen Knie zu ignorieren. Er fragte mit leiser Stimme. »Wer bist du wirklich?«
»Das siehst du doch.«
»Ja, aber wie ist das möglich? Du bist doch nicht nur einer, denke ich.«
»Das stimmt.«
»Wieso?«
»Ich bin zwei, verstehst du? Ich bin Sariel, der Mann, aber ich bin auch die Frau.« Er lachte. »Ein Doppelengel. Ein Grigori der besonderen Art. Ich bin zwei in einem. Ich bin ein Experiment. Ich kann Mann, aber auch Frau sein.«
»Und was bist du im Moment?«
»Halb Mann und halb Frau.«
Julian nickte ihm zu. »Dann kannst du auch Kinder bekommen, nehme ich an, wenn du dich in eine Frau verwandelst und der Körper auch noch hinzukommt.«
»Das stimmt.«
Vor der nächsten Frage fürchtete sich Julian. Er spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Er fing auch an zu zittern und wollte es in den Griff bekommen, was er nicht schaffte. Sogar seine Zähne schlugen dabei aufeinander. Die Gegenseite tat nichts. Sie wollte, dass er die Fragen stellte.
Das tat er dann.
»Hast du …«, er musste erneut Luft holen. »Hast du schon Kinder bekommen?«
»Ja, das habe ich.«
Julian schwieg. Er konnte nicht mehr reden. Seine Kehle saß plötzlich zu. Ein schrecklicher Verdacht war in ihm hochgestiegen. Er wollte ihn nicht aussprechen, aber es musste einfach raus, sonst drehte er noch durch.
»Wie viele Kinder denn?«
»Es war nur eines«, gab er grinsend zu.
»Aha – ein Junge oder ein Mädchen?«, stotterte sich Julian zurecht.
»Ein Junge.«
»Und – ähm, was geschah mit ihm?«
»Er lebt.«
»Das freut mich für ihn.«
»Er lebt schon lange, und trotz dieser Zeit hat er nicht herausgefunden, wer sein Vater und seine Mutter ist.«
»Vielleicht wollte der Sohn das nicht.«
»Doch. Ich kann mir vorstellen, dass er großes Interesse daran hat. Alles andere wäre unnatürlich.«
»Ja, das glaube ich auch.« Durch Julians Kopf schossen unzählige Gedanken. Aber einer nur blieb hängen, und der verwandelte sich in eine Frage, die zu stellen ihm sehr schwer fiel. Er schaffte es trotzdem, und seine Stimme klang leise.
»Bist du mein Vater?« Sein Herz klopfte wie verrückt. Er hatte bisher immer klar gesehen, jetzt aber wallte plötzlich Nebel vor seinen Augen auf, und auch ein großes Zittern überkam ihn.
Sariel ließ sich Zeit mit der Antwort. Dann aber floss sie glatt über seine Lippen. »Natürlich bin ich dein Vater. Was hast du denn gedacht?«
Julian senkte den Kopf. Er hatte plötzlich das Gefühl, in einer Achterbahn zu hocken, die auf und nieder ging, aber auch einen Looping fuhr.
Er hatte seinen Vater nie gekannt. Er wusste es nun, aber zu einem Elternpaar gehörte auch die Mutter.
Julian musste sich schon sehr zusammenreißen, um fragen zu können. »Wer ist meine Mutter?«
»Na, wer
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