1843 - Die Falle der Sensenfrau
als der Druck an seiner Stirn verschwunden war.
»Ich hätte dich jetzt töten können, mein Sohn. Aber ich habe es nicht getan.«
»Danke.«
»Ah, du bedankst dich bei deinem Vater und bei deiner Mutter. Das ist wunderbar. Aber ich will bei der ganzen Wahrheit bleiben. Solltest du mich hintergehen, werde ich dich grausam bestrafen. Dann bist du nicht mehr mein Sohn, sondern ein Feind. Und Feinde werde ich vernichten. Ich habe dafür meine Tiere und auch die Sense. Niemand sollte einen Grigori unterschätzen.«
»Ja, das denke ich auch.«
»Dann werde ich dich nun entlassen.«
Julian hätte sich darüber freuen können, aber das tat er nicht. Was so harmlos daher gesagt worden war, darüber musste man schon näher nachdenken. Eine Entlassung bedeutete in diesem Fall die absolute Abkehr. Das heißt, die Vernichtung oder den Tod.
»Ich denke daran.«
»Gut.«
»Und was hast du jetzt vor?«
»Das ist ganz einfach. Ich werde dich wieder in deine Welt entlassen. Dort kannst du zu deinen Freunden gehen, aber du darfst nie vergessen, wer du in der Zwischenzeit geworden bist. Du gehörst jetzt zu mir. Wir sind die Familie, und die enttäuscht man nicht. Dein Platz ist vorläufig der Vatikan. Hier kannst du erste Zeichen setzen. Hier bist du die Laus, die man in das Fell des Vatikan gesetzt hat. Ja, so ist es. So und nicht anders. Denk daran, was du deinen Eltern schuldig bist.«
»Und wenn sie mich vermisst haben, was soll ich sagen, wo ich gewesen bin?«
»Sag einfach, du hättest frische Luft schnappen wollen. Das ist alles, nicht mehr und nicht weniger.«
»Ich weiß nicht, ob man mir glauben wird.«
»Du musst eben überzeugend sein. Und denke immer daran, deine Eltern sind in der Nähe und sehen alles. Aus dieser Klemme kommst du nicht mehr heraus.«
»Ja, aber es wird nicht leicht sein, die andere Seite zu überzeugen.«
»Gib alles.«
»Ich versuche es.«
»Du bist ein Nephilim«, zischte Sariel. »Du siehst zwar aus wie ein Mensch, aber du gehörst nicht dazu. Du gehörst zu deiner Familie. Sie kann lieben, sie kann aber auch bestrafen, denke daran …«
Mehr sagte Sariel nicht. Stattdessen zog er sich zurück. Er schwebte tatsächlich nach hinten, und dort hatte man den Eindruck, als würde sich eine Tür öffnen, deren dahinter liegende Welt den Grigori verschlang.
Julian spürte, dass es ihn durchschüttelte.
Die Umgebung veränderte sich. Er sah etwas anderes. Es waren schlichte Wände, an denen kein Bild hing. So war ihm klar, dass er sich wieder in seinem Zimmer befand, das ihm Pater Ignatius überlassen hatte. Das war seine Welt.
Aufatmen konnte er nicht. Er hatte einen Auftrag bekommen und musste sich fügen, wenn er überleben wollte. Und dabei würde er seine neuen Freunde, die es gut mit ihm meinten, über die Klinge springen lassen müssen.
Welch ein Grauen, an dem Julian beinahe erstickte …
***
Es gab ja nicht nur Suko und mich, um den sich Ignatius kümmern musste. Er hatte auch einen Job zu erledigen, obwohl er den jetzt etwas mehr zur Seite geschoben hatte. Was es hier zu tun gab, konnte auch sein Stellvertreter erledigen.
Das hatte er Suko und mir zukommen lassen, und wir waren darüber schon erfreut. Das war aber auch die einzige Freude, die wir spürten, eine andere gab es nicht.
Noch immer war Julian verschwunden. Wir hatten kein Lebenszeichen von ihm entdeckt, was uns nicht eben optimistisch in die Zukunft schauen ließ. Da konnte einiges schief gelaufen und Julian nicht mehr am Leben sein. Darüber sprach ich mit Suko, als wir einige Schritte gegangen waren und den Petersplatz erreicht hatten.
Wir schlenderten an der päpstlichen Audienzhalle vorbei, passierten die Sakristei und die Schatzkammern und sahen hinter uns das Hospiz Santa Marta.
Es war eine Welt für sich. Das spürte man als Besucher bei jedem Schritt. Hier tickten die Uhren anders, und immer wieder begegneten uns Menschen in schwarzen Anzügen oder langen Soutanen. Eine Schwester sahen wir auch. Sie eilte schnell an uns vorbei, als wären wir Aussätzige.
Wenn wir weiter gegangen wären, dann wären wir in das Gebiet der Medien gelangt. Ein Sendeturm war nicht zu übersehen. Er gehörte bestimmt zu Radio Vatikan.
Ich sah eine Bank, ging darauf zu und ließ mich dort nieder.
»Müde?«, fragte Suko.
»Kaum.«
»Aber?«
Ich holte mein Handy hervor. »Ich möchte noch mal mit London telefonieren.«
»Und dann?«
»Nichts dann. Aber Sir James soll Bescheid wissen, dass wir so schnell nicht nach
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