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1846 - Kreise

Titel: 1846 - Kreise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannt
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Ziel erreichen.
    Welches Ziel?
    Sie wußte es nicht, hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Aus schwindelerregender Höhe blickte sie über Trade City hinweg. Die Berge in der Ferne bildeten eine Silhouette, die ihr gefallen konnte. Zaghaft zuerst, dann immer fester zeichneten ihre Finger den Horizont auf der Scheibe nach. Aber nichts davon blieb; die selbstreinigende Beschichtung machte ihre Bemühungen zunichte.
    Die Hände gegen das Glas gepreßt, ließ sie sich erschöpft nach vorne sinken, bis ihre Stirn das kühle Material berührte. Der kondensierende Atem ließ einige ihrer Linien noch einmal schwach sichtbar werden.
    Langsam, mit aller Hingabe zog Dindra Clandor eine Wellenlinie übers Glas. Aber noch während sie den Finger bewegte, wußte sie, daß auch das nicht ihr Ziel war.
    Sie schreckte zusammen, als sich eine Hand auf ihren Unterarm legte.
    „So wirst du das Glück nie erreichen, Schwester. Nicht mit zaghaften Versuchen wirst du die Vollendung finden, du mußt es aus tiefster Seele wollen. Gib dich dem Moment hin, werde eins mit dem, was du zu schaffen versuchst."
    Ein bärtiges Gesicht grinste sie an. Die Hand schloß sich schmerzhaft um ihren Arm. Dindra stöhnte gequält, aber sie war zu schwach, sich dem Griff zu entziehen.
    Der Mann hielt ihr einen kleinen runden Behälter vor die Augen. Viel zu nahe, als daß Dinnie den Aufdruck hätte entziffern können. Doch sie verstand instinktiv und griff zu.
    Er führte ihre Hand. Mit unnachgiebigem Druck.
    Ein blutroter Farbstrahl brach aus dem Sprühkopf der Dose hervor und verteilte sich mit scharfen Konturen auf der Scheibe. Ein gleichseitiges Dreieck entstand, gleich darauf eine Pyramide. Aber der Bärtige gab sich damit nicht zufrieden. Das Muster wurde komplizierter. Mehrdimensional, dachte Dindra überrascht.
    Vielleicht ist das die Lösung. Sie sträubte sich nicht mehr, genoß im Gegenteil die Berührung der fremden Hand.
    Der Mann, er mochte nur wenige Jahre älter sein als sie selbst, knurrte unwillig. In wilden Zickzackbewegungen übersprühte er die Skizze. Was blieb, war ein gräßlich verlaufender Klecks, eine Beleidigung der Sinne.
    Nur am Rande registrierte Dindra, daß die Selbstreinigungskräfte von der Farbe überlagert wurden. Und noch etwas entdeckte sie. Der Korridor, in dem sie sich befand, war bereits mit üppigen Graffiti besprüht.
    Fragend schaute sie den Bärtigen an. Die Sprühdose war leer. Er warf sie achtlos in die Anpflanzungen.
    „Wir alle sind Suchende", sagte er. „Du und ich, jeder in Trade City. Wenn du dich ganz fest konzentrierst, Schwester, kannst du den Ruf spüren."
    Mit beiden Händen umfaßte er ihre Arme und zog sie an sich. Dinnie erschauerte für einen Moment, dann ließ sie es mit sich geschehen. Sein Flüstern wirkte beruhigend, sie fühlte sich geborgen, und - was noch weitaus wichtiger war - der Fremde verstand sie. Er kannte ihre geheimsten Sehnsüchte.
    „Wir sind Suchende", flüsterte er. Dinnie erschrak, als sein heißer Atem stoßweise ihren Nacken streifte.
    „Wir werden das Paradies finden. Ich weiß es."
     
    4.
     
    Das Fensterholo zeigte die untergehende Sonne Boscyks Stern, wie sie sich vom Gipfel des Silos aus darbot. Das Gebirge im Norden der Stadt glühte in düsterem Rot, als würden die höchsten Gipfel in lodernden Flammen stehen. Ein solches Bild bot sich höchst selten.
    Illie hatte keinen Blick dafür. Auch nicht für das fürchterliche Chaos in ihrem Zimmer. Was am Morgen sauber geordnet seinen Platz in den Regalen gehabt hatte, lag inzwischen inmitten eines Konglomerats von Spielzeug, Disketten und Gebrauchsgegenständen.
    Illie hatte sich aufs Zeichnen verlegt. Mit Leuchtstiften. Erst an einer Wand, doch das war zu umständlich gewesen. Danach auf Papier. Egal ob auf einem Zeichenblock, den sie in ihrem Schreibtisch ausgegraben hatte, oder auf den gedruckten Urkunden, die sie im Schlafzimmer ihrer Eltern fand. Blatt für Blatt hatte sie mit den wildesten Kritzeleien vollgeschmiert und achtlos fallen gelassen. Manches zusammengeknüllt, anderes nur achtlos beiseite geschoben.
    Nach dem letzten Blatt Papier, es war der Ehevertrag ihrer Eltern, zerrte sie ihre Unterwäsche aus dem Schrank hervor. Das dünne Gewebe eignete sich denkbar schlecht für ihre Kritzeleien, aber indem sie den Stoff mit einer Hand spannte und mit der anderen den Stift fest aufdrückte, schaffte sie es leidlich, ihre Vorstellungen eines riesenhaften Bauwerks umzusetzen.
    „Hi, Illie! Wann ist Dindra

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