1846 - Kreise
das Gefühl, auf der Oberfläche eines zerklüfteten Asteroiden zu sitzen. Darüber spannte sich eine energetische Kuppel, die aber nur aufgrund gelegentlicher schwacher Interferenzen zu erkennen war. Für die nötige Beleuchtung sorgte ein gleißendes Sternenband, das sich vielfach verzweigt übers Firmament spannte, ebenso wie zwei nahe, wolkenverhangene Welten, die als große Sicheln über den Horizont emporstiegen.
Aus dem Zentrum des Tisches stiegen die bestellten Getränke hervor. Zweimal terranischer Kaffee mit Milch und Zucker.
Ohne daß sie sich dessen bewußt geworden wäre, begann Dindra Clandor mit den Zuckerwürfeln zu spielen. Sie legte die Stückchen aneinander, verschob sie wieder, stellte sie schräg. Erst nach einer Weile spürte sie Sybils Blick auf sich ruhen und zuckte zusammen. Aber obwohl sie sich daraufhin entspannt zurücklehnte, spielten ihre Finger immer noch auf der Glasplatte.
„Also, Dinnie, rück endlich heraus mit der Sprache! „begann Sybil Moltrans. „Wo liegt dein Problem?"
Dindra preßte die Lippen aufeinander. Ihre Finger zerbröselten den Zucker, zeichneten ruckartig Linien auf den Tisch.
„Ein paar Tage lang habe ich euch sogar bewundert, Ronald und dich", fuhr Sybil im Plauderton fort.
„Ich habe mir gesagt, daß es mutig ist, ein fremdes Kind aufzunehmen. Aber jetzt? Jack hat euch verändert."
„Unsinn! „stieß Dindra Clandor schroff hervor. „Er ist fort. Aus und Schluß! Ich will nichts mehr davon hören."
„Verdrängter Schuldkomplex", diagnostizierte Sybil. „Gibst du dir die Schuld daran, daß Jack fort ist?"
Dindra schnappte nach Luft. Für einen Moment sah es so aus, als wolle sie aufstehen und gehen. Dann klatschte ihre Hand nur schwer auf den Tisch und verwirbelte den Zucker in alle Richtungen.
Ihre Freundin schüttelte verständnislos den Kopf.
„Ich rate dir, Dinnie, nimm die psychologische Beratung in Anspruch. Illie und du, ihr habt euch verändert. Und ich lasse es mir nicht nehmen, daß dieser nette kleine Junge damit zu tun hat." Überlegend kaute sie auf ihrer Unterlippe. „War er am Ende gar nicht so fremd? Ein Kind von dir, von dem Ronald nichts wissen darf?"
Diesmal sprang Dindra wirklich auf. Hektische rote Flecken erschienen auf ihrem Gesicht.
„Du bist krank", stieß sie hervor. „Der Junge ist mir völlig egal, ich weiß nicht einmal mehr, wie er ausgesehen hat. Bitte, laß mich in Ruhe!" Sprach’s, wandte sich abrupt um und hastete davon.
Sybil Moltrans starrte ihr mit offenem Mund hinterher. Erst nach einer Weile stürzte sie ihren Kaffee, schwarz und bitter, hastig hinunter.
Ihre Gedanken kreisten um Jack. Und seltsam, je mehr sie sich auf den Jungen konzentrierte, desto weniger vermochte sie zu sagen, wie er ausgesehen hatte. Sie hätte nicht einmal mehr seine Hautfarbe mit Sicherheit angeben können.
Für einen flüchtigen Augenblick glaubte sie, eine graue Schuppenhaut vor sich zu sehen. Aber das war doch ausgemachter Blödsinn. Oder? Eine eigenartige Leere breitete sich in ihr aus, das Empfinden, daß all das höchst unwichtig war.
Sybil Moltrans lachte schrill. Ganz langsam begann sie, die Milch auszuschütten, die eigentlich für den Kaffee bestimmt gewesen war. Die sich ausbreitende Lache faszinierte sie. Mit allen zehn Fingern griff sie hinein und begann, wirre Linien zu ziehen.
Der Drang, zu zeichnen, zu konstruieren und Neues zu schaffen, wurde unwiderstehlich.
„Ich muß es schaffen", hauchte sie im Selbstgespräch.
Sie würde es schaffen, das wußte sie in dem Moment. Und wenn sie Tag und Nacht nichts anderes mehr machte, als zu zeichnen.
Daß der Tischservo leise nach ihrer weiteren Bestellung fragte, nahm sie nicht wahr. Schon nach kurzer Zeit war die Oberfläche der Tischplatte ein Sammelsurium hingekritzelter Linien und Muster.
*
Ziellos irrte Dindra Clandor durch den Silo, vertraute sich willkürlich Laufbändern und Antigravschächten an. Sie floh vor sich selbst, vor dem Hämmern unter ihrer Schädeldecke, vor dem Gefühl der Leere - doch das hätte sie sich niemals eingestanden.
„Alles wird gut werden", murmelte sie. „Du schaffst es, Dinnie, du hast es immer geschafft."
Sie durfte sich nur nicht unterkriegen lassen. Der Existenzkampf des Dschungels fand seine Fortsetzung in der Zivilisation. Gesichter huschten vorbei - namenlose, bleiche Fratzen. Einige sprachen sie an, doch Dinnie achtete nicht darauf. Weiter! hämmerte das Blut in ihren Adern. Fort von hier! Du mußt dein
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