1849 - Die Mittagswelt
..."
Der Kleine segelte noch eine gewisse Strecke vorwärts, dann fiel er wie ein Stein zu Boden, aus fünfzehn Metern Höhe. Saedelaere merkte sich den Punkt. Er spurtete los, um zwei Häuserecken, dann geradeaus.
Von weitem sah er den Körper an der Außenwand eines Bungalows liegen, kniend davor Bruder Nummer zwei. Ob etwas passiert war oder nicht, ließ sich auf die Entfernung nicht sagen.
Der kniende Raubyner drehte sich um, als er Saedelaere rennen hörte. Es war Scheep. Der reglose Körper gehörte demnach Lanagh.
„Alaska ... Wir wollten nicht das ..." Scheep sprach den Satz nicht zu Ende.
Lanagh gab kein Lebenszeichen von sich. Sein linkes Bein war unnatürlich abgewinkelt. Es schien gebrochen zu sein.
Saedelaere ging vor dem reglosen Körper in die Knie. Er keuchte noch.
„Was ist mit deinem Bruder?" fragte er Scheep. „Lebt er?"
„Weiß ich nicht."
„Du bist ein toller Helfer."
„Was soll ich denn machen?"
„Erst mal geh zur Seite."
Saedelaere brachte sein Ohr an den spitzen Mund des Kleinen. Er spürte flache Atemzüge. Das gab Hoffnung. Lanagh lag auf dem Rücken, von vorn ließ sich außer dem Beinbruch keine Verletzung erkennen.
Wie es von hinten aussah, konnte er so nicht sagen.
„Hilf mir, Scheep! Wir drehen ihn um."
„Wozu?"
„Mach schon!" versetzt der Träger der Haut unwirsch. „Und zwar vorsichtig."
Sie faßten Lanagh an einer Seite und zogen ihn herum. Der Kleine reagierte nicht, keine Schmerzensschreie, kein unbewußtes Stöhnen; er hatte Glück, daß er ohne Bewußtsein war.
Lanagh kam auf dem Bauch zu liegen. Sein Kopf zeigte zur Seite.
Wo bis eben noch das Flugaggregat gewesen war, klaffte eine fürchterliche Wunde. Sie reichte einige Zentimeter tief in den Leib. In den gezackten Wundrändern klebten Reste des Schutzanzugs, der an dieser Stelle zerfetzt war. Außerdem machte Saedelaere eine Anzahl kleiner und kleinster Metallsplitter aus. Sie waren tief in den Körper eingedrungen. Ein Glück, daß aus der Wunde wenig Blut kam.
Saedelaere kannte sich im Körperbau eines Raubyners nicht aus. Eine Wirbelsäule im menschlichen Sinn besaß der Kleine nicht; die wäre zerstört gewesen. Er war jedoch sicher, daß Lanagh schwere innere Verletzungen hatte.
„Wir müssen das Bein schienen", verkündete Saedelaere tonlos. „Außerdem werden wir die Rückenwunde reinigen und verbinden."
Scheep schüttelte in einer menschlichen, von Saedelaere abgeschauten Bewegung den Kopf. Er sagte: „Ich glaub’ nicht, daß es sich lohnt, da was zu machen."
„Du meinst, Lanagh heilt von alleine?" fragte Saedelaere ungläubig.
„Nein. Er krepiert dran. Das dauert nicht lang."
Der Träger der Haut starrte den kleinen Raubyner mit unverhohlenem Zorn an. „Dein Bruder kümmert dich kein bißchen, nicht wahr?"
„Er hätte aufpassen müssen", gab Scheep ungerührt zurück. „Jetzt hat er Pech gehabt. Du hast ihm doch vorher gesagt, was passieren kann."
Scheep stopfte sich eine Ladung von dem Popcorn-Zeug in den Mund, von dem er und Lanagh nicht genug bekommen konnten.
Saedelaere beherrschte sich mühsam. Es fiel ihm nicht leicht, die Äußerung zu kommentieren.
Scheep war kein Menschenkind, sondern entstammte einem fremden Volk. Er besaß ein Recht auf fremde Mentalität, ein Recht auf Grausamkeit.
„Jetzt hör mal zu, Kleiner ...", versuchte er es dennoch. „Lanagh hat einen Fehler gemacht.
Wahrscheinlich sogar viele Fehler. Aber das heißt nicht, daß wir nicht alles versuchen. Wir helfen ihm. Du bleibst hier bei deinem Bruder, ist das klar? Ich suche Verbandmaterial."
„Ich habe keine ..."
„Tu, was ich dir sage!"
Saedelaere stand auf, orientierte sich und rannte hinüber zum Kaufhaus, drei Straßen weiter. Er wartete eine Viertelstunde, dann öffnete eine Nullperson die Tür.
Von seinem ersten Aufenthalt kannte er sich im Kaufhaus aus. Trotzdem mußte er lange suchen, am Ende wurde es mehr als eine Viertelstunde. Aus einem der Regale riß er ein Erste-Hilfe-Pack; eines jener Pakete, wie sie Freizeitsportler mit sich führten. Dazu besorgte er zwei Stangen und zusätzliches Bindenmaterial.
Am Ausgang wartete er ab. Niemand ließ sich sehen, die Pforte blieb verschlossen. Ihm rannte die Zeit davon.
Saedelaere fing zu schreien an, aber niemand hörte ihn, natürlich nicht. Lanagh starb womöglich in diesen Sekunden - und er konnte nicht zu ihm, weil er keine Tür zum Funktionieren brachte.
Es dauerte eine Stunde. Mit Hilfsmitteln bepackt erreichte er die
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