1850 - Vollmond-Grauen
durchschlafe, ist das ein Wunder. Hat aber nichts mit meiner Gesundheit zu tun, sondern mit dem Alter.«
»Das kann ich mir denken.«
»Schön. Und jetzt komme ich zur letzten Nacht. Da habe ich auch wach gelegen. Oder besser gesagt: wach gesessen.«
»Aha.«
»Hier am Fenster. Auf dem Stuhl, auf dem ich jetzt sitze, es ist mein Lieblingsplatz.«
»Und was haben Sie in der vergangenen Nacht gesehen?«
»Na, Ihre Frau.«
Harry schoss das Blut in den Kopf. Er hatte gehofft, etwas zu erfahren, aber mit einer so klaren Antwort hatte er nicht gerechnet. Er hatte Mühe, sich zu beherrschen. Er musste erst mal schlucken, dann fragte er mit leiser Stimme: »Bitte, Moment mal, was haben Sie gesagt?«
»Ich sah Ihre Frau.«
»In der letzten Nacht?«
»Ja, und ich habe mich auch gewundert. Ich habe gedacht, was macht die denn zu dieser Zeit hier draußen? Ich saß ja hier und überlegte dann, ob ich das Fenster öffnen und sie ansprechen sollte. Habe es dann nicht getan.«
»Und wie ging es weiter?«
»Das ist nicht schwer zu sagen. Es dauerte nicht lange, da war Ihre Frau verschwunden.«
»Ja«, flüsterte Harry, »und Sie haben nicht gesehen, wohin sie gegangen ist?«
»So ist es.«
Der Agent schloss die Augen und lehnte sich zurück. Frau Fischer ließ ihn in Ruhe, aber nach einer Weile hörte er sie doch sprechen.
»Was haben Sie denn?«
Harry Stahl öffnete die Augen wieder. Sein Mund war trocken geworden.
»Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen, Frau Fischer?«, fragte er mit heiserer Stimme.
Sie schüttelte den Kopf.
»Denken Sie nach – bitte.«
Sie winkte ab. »Junger Mann, Sie müssen wissen, dass ich eine alte Frau bin. Ich gehe auf die Achtzig zu. Ich habe Ihre Frau gesehen, aber ich sah nicht, was wirklich passierte. Sie ist gegangen, okay. Aber wohin sie ging, habe ich nicht gesehen. Es tut mir wahnsinnig leid, aber es ist nun mal so.«
»Aber Sie wissen, dass sie draußen war?«
»Bitte, junger Mann, ich bin weder schwachsinnig noch blind.«
»Schon gut.«
»Können Sie sich nicht denken, warum Ihre Frau gegangen ist? Ich will ja nicht neugierig sein, aber einen Ehekrach kann ich mir bei Ihnen gar nicht vorstellen.«
»Das war auch kein Krach.«
»Aha.«
Eine weitere Erklärung gab Harry Stahl nicht ab. Er trank noch einen Schluck Wein und erhob sich.
»Ja, dann wünsche ich Ihnen noch eine gute und erfolgreiche Suche«, sagte Frau Fischer. »Aber denken Sie nicht gleich an das Schlimmste. Frauen sind manchmal komische Geschöpfe und reagieren viel zu spontan. Meine ich zumindest, aber ich kann mich auch irren.«
»Es wird sich schon alles aufklären«, sagte Harry.
»Sind Sie sicher?«
»Bestimmt, Frau Fischer, bestimmt …«
***
Es war wie so oft. Ein Anruf am Abend, nicht eben erquickend und labend. Das war auch der Tag nicht gewesen, an dem es viel geregnet hatte. Die Menschen hatten keine Sonne gesehen, die Temperaturen waren ebenfalls gefallen, nun ja, ein typisches Novemberwetter.
Suko und ich hatten dabei das Glück gehabt, im Büro bleiben zu können. Das musste auch mal sein. Und dann hatten wir uns darauf gefreut, früh Feierabend machen zu können.
Das alles war gut gelaufen, wir hatten am Mittag sogar bei Luigi gegessen, und Glenda Perkins, unsere Assistentin, wollte nach Feierabend noch shoppen gehen.
Suko und ich fuhren nach Hause. Ich wurde von einer leeren Wohnung empfangen, mein Freund und Kollege Suko, der nebenan wohnte, von seiner Partnerin Shao.
Auch wenn ich jetzt nach draußen schaute, hatte sich das Wetter nicht gebessert. Es war noch immer trübe, sogar dunstig, und die Straßen glänzten nass.
Ich glänzte durch Anwesenheit in meiner Bude, schaltete die Glotze ein und überlegte, ob ich mir was zu essen kommen lassen sollte oder nicht. Besser nicht, denn ich hatte bereits am Mittag bei Luigi wirklich gut gegessen.
Wenn ich Hunger verspürte, konnte ich mir ein paar Chips gönnen, was auch nicht das Gesündeste war, aber es schmeckte mir nun mal.
Derartige Abende taten gut. Ich wollte sie nicht an jedem Tag erleben, aber zwischendurch mal die Seele baumeln lassen, das war gar nicht schlecht. Bis dann der Anruf kam.
Ich schielte das Telefon an und überlegte, ob ich abheben sollte. Mein Pflichtgefühl siegte, eine Nummer las ich auch nicht auf dem Display, und Sekunden später hörte ich eine bekannte Stimme, die einem Freund aus Deutschland gehörte.
»Hallo, Harry, das ist eine Überraschung.«
»Leider keine gute, John.«
Ich schwieg,
Weitere Kostenlose Bücher