1851 - Dreizehn Seelen für den Satan
Suko standen noch andere Mittel zur Verfügung.
Während er noch überlegte, wie er sich aus der misslichen Situation befreien konnte, hob der Wirt blitzschnell die Axt. Die Klinge zischte durch die Luft und krachte genau auf die Stelle des Tresens, an der sich einen Sekundenbruchteil zuvor noch Sukos Hand befunden hatten.
Fluchend sprang der Chinese zurück und griff mit einer Hand in sein Jackett.
Als seine Finger wieder hervorkamen, umklammerte er einen kleinen, rohrähnlichen Gegenstand. Es handelte sich dabei um den Stab des Buddha, der sich schon seit vielen Jahren im Besitz des Chinesen befand.
»Topar«, schallte Sukos laute Stimme durch das Innere des Pubs.
Die Umstehenden erstarrten zu Salzsäulen. Auch der Wirt, der bereits seine Axt mordlustig zu einem neuerlichen Schlag erhoben hatte, gefror mitten in der Bewegung.
Für alle außer dem Chinesen stand nun die Zeit für fünf Sekunden still. Suko nutzte die Gelegenheit und schlängelte sich zwischen den angriffslustigen Gästen hindurch in Richtung Ausgang. Töten durfte er in dieser Zeitspanne niemand, da Buddha Gewalt verabscheute. Der Stab hätte daraufhin seine Fähigkeiten verloren. Allerdings hatte der Chinese ohnehin nicht vor, jemandem etwas anzutun.
Fünf Sekunden waren nicht gerade lang. Angesichts dieser Übermacht konnte er lediglich die Flucht ergreifen.
Und das tat er auch!
Eilig hetzte Suko dem Ausgang entgegen und stand nur wenige Augenblicke später wieder im Freien. Im gleichen Moment setzte der normale Zeitablauf wieder ein.
Hinter sich konnte der Chinese enttäuschtes, wütendes Heulen hören, als man realisierte, dass das Opfer entkommen war.
Eilig rannte Suko los, um so viel Raum wie möglich zwischen sich und den Pub zu bringen. Dann stürmte die Meute auch schon auf die Straße.
»Da drüben ist er«, erkannte Suko die Stimme des axtschwingenden Wirts. »Schnappt ihn euch!«
Aber der Chinese dachte nicht daran, sich von dem blutrünstigen Mob schnappen zu lassen. Sofort hetzte er weiter. Ihm war klar, die Meute würde sich nicht ohne weiteres abhängen lassen. Er brauchte also einen Platz, an dem er sich verschanzen konnte.
Die Dorfkirche fiel ihm ins Auge.
Suko änderte seine Laufrichtung und hielt auf das Gotteshaus zu.
***
Reverend Lewis Boyle kniete vor dem Altar seiner Dorfkirche. Seine Augen starrten hinauf zu dem gewaltigen Kreuz, welches den hinteren Teil des Gotteshauses einnahm. Seine Lippen bewegten sich im stillen Gebet.
Von Zeit zu Zeit griff er nach der Flasche, die er neben sich auf dem kalten Steinboden abgestellt hatte, um sich den bernsteinfarbenen Inhalt in großen Schlucken die Kehle hinunterzuschütten.
Der billige Whiskey linderte die entsetzliche Furcht, die das Herz des Pfarrers erfüllte. Die Hexe hatte sich das ganze Dorf untertan gemacht. All seine Schäfchen waren an das Böse verloren. Nur ihn selbst hatte sie verschont. Und Boyle wusste auch genau, warum dies so war. Die andere Seite, das Gute, sollte den Triumph des Bösen bei vollem Bewusstsein miterleben.
Jetzt wünschte sich Reverend Boyle, er wäre ehrlicher zu dem Scotland-Yard-Inspector gewesen, aber nun war es natürlich längst zu spät. Die Hexe hatte ihn und das Mädchen fortschaffen lassen. Gegen Mitternacht sollten sie mit den anderen Opfern dem Satan geopfert werden.
Und er selbst sollte Zeuge dieses abscheulichen, gottlosen Blutbads werden, so hatte es die Hexe befohlen.
Vielleicht gelang es ihm ja bis dahin, sich mittels des Alkohols ins Koma zu befördern. Das war jedenfalls Boyles feste Absicht. Er hatte nicht vor, dabei zuzusehen, wie man seine Schäfchen dem Leibhaftigen opferte.
Lärm riss den Pfarrer aus seinen düsteren Überlegungen. Er stockte mitten im Gebet. Von draußen war lautes Johlen zu hören. Hatte die Hexe etwa schon mit ihren gottlosen Ritualen begonnen?
Boyle bemühte sich einen Moment lang, den Lärm und die Schreie zu ignorieren, dann jedoch stemmte er sich mühsam hoch. Jetzt erst bemerkte er, wie sehr er schon schwankte. Der Whisky zeigte deutlich seine Wirkung.
Mit schleppenden Schritten bewegte sich der Reverend in Richtung Eingangsportal, um dieses einen winzigen Spaltbreit zu öffnen. Was er sah, ließ das Blut in seinen Adern gefrieren. Eine blutgierige Meute stürmte gerade aus dem Pub auf der anderen Seite des Kirchenvorplatzes. Allen voran rannte der Wirt, der wütend eine Axt schwang.
Die Horde verfolgte einen asiatisch aussehenden Mann, den Boyle noch nie im Ort gesehen
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