1861 - Bomben für den Brutkosmos
oder anderweitig verwendet; Mannschaften, die sensible Zonen hätten bewachen sollen, wurden auf andere Posten gesetzt, und so ging es fort, bis vom früheren Aufwand kaum mehr etwas im Einsatz war. Das Gefühl der Sicherheit schlug in diesen Fällen nach einiger Zeit in Überheblichkeit um und wurde damit zur Gefahr.
„Die Zentrale ...", murmelte Myles Kantor, während er die Pläne studierte. „Dort könnte man natürlich allerhand erreichen. Schließlich wird von dort aus alles an Bord gesteuert."
„Vor allem würden wir Aufmerksamkeit erringen", bemerkte ich. „Und das sollten wir besser vermeiden."
Myles grinste flüchtig. „Ich weiß", gab er zurück. „Keine Sorge, ich werde darauf achten."
Dao-Lin-H’ay warf mir einen Blick zu.
„Nehmen wir an, es gelingt uns, dieses Schiff in eine Art Bombe zu verwandeln", fragte sie. „Wann soll diese Bombe dann hochgehen?"
Darüber hatte ich mir auch schon Gedanken gemacht.
Eines unserer Probleme war, daß unsere Zeitrechnung nicht mehr stimmte. Mit den Pikosyns waren auch die Chronometer ausgefallen und hatten ihre Daten verloren. Inzwischen liefen sie wieder, aber uns fehlte die Zeitspanne, in der wir ohne Bewußtsein gewesen waren - möglich, daß es nur eine knappe Stunde gewesen war, aber es hätten auch mehrere Stunden, vielleicht sogar ein ganzer Tag sein können.
„Das wird Myles herausbekommen müssen", sagte ich und deutete dabei auf den Wissenschaftler. „Wir haben drei relevante Daten zu beachten: erstens den Zeitpunkt des nächsten Flimmerphänomens. Die Bombe sollte nach Möglichkeit hochgehen, bevor es soweit ist und wieder Menschen zu Schaden oder sogar zu Tode kommen. Zweitens macht es keinen Sinn, die Bombe zu einem Zeitpunkt zu zünden, wenn das Schiff den Brutkosmos schon wieder verlassen hat. Und drittens ist vor allem für uns wichtig, daß wir Goeddas Brutkosmos zum Zeitpunkt der Zündung nach Möglichkeit schon verlassen haben."
„Wann das nächste Flimmern geschehen wird, weiß ich nicht", murmelte Myles Kantor, der angestrengt auf die Daten starrte, die er sich zeigen ließ.
Wie so oft in solchen Fällen hatte er ein Niveau und eine Konzentration des Denkens erreicht, bei dem ihm kaum noch jemand folgen konnte. Eine von Myles Kantors ganz besonderen Gaben war, Verknüpfungen und logische Fäden zwischen Informationen erkennen zu können und weiterzuspinnen, die außer ihm niemand zu finden, geschweige denn zu verfolgen imstande war. Es war nicht ratsam, Myles zu stören, wenn er in dieser Phase der Hochkonzentration war.
„Aber es sieht so aus, als würde noch ein zweiter Pulk von Gliederschiffen mit Material gebraucht, bis die Ausbaustufe für Goeddas nächsten Wachstumsschub vorbereitet ist", sagte er. „Wir haben also noch Zeit, aber fragt mich nur nicht, wieviel."
Ich hörte, wie er die Luft durch die Zähne zog.
„Etwas gefunden?"
Myles nickte, ohne den Kopf von der Projektion zu wenden. Ich sah, wie er einen technischen Plan mit Blicken absuchte; es war ein verwirrendes Durcheinander von bunten Linien, die zum Teil beschriftet waren.
Dutzende von verschiedenartigen Symbolen waren in dieses System von Linien eingebettet; irgendwelche Maschinen, Anlagen, Schalter.
Ein Normalmensch war kaum in der Lage, in einem solchen Linienwirrwarr auch nur einen Anschein von Vernunft und Logik zu erkennen. Myles Kantor hingegen konnte solche Pläne, selbst wenn sie mikroskopisch fein gezeichnet und zugleich so groß waren wie eine ganze Wand, mit der gleichen Geläufigkeit lesen, wie andere in einem Gedichtband schmökerten - wahrscheinlich tat Myles Kantor es sogar mit mehr Genuß.
„Aha ... !"
Ich grinste.
Mitunter zeigte Myles ausgesprochene Expertenallüren. Er schüttelte den Kopf, mal verzweifelt, mal rätselnd, er brummte und holte hörbar Luft; er grummelte in sich hinein, runzelte tiefschürfend die Stirn, schnitt sorgenvolle Gesichter wie ein Arzt bei der Visite. Dazu gab er die passenden Laute von sich, die Betroffenheit ausdrückten oder Sorge oder vieles andere.
Diese besondere Form der Kommunikation schien vor allem nur dazu zu taugen, dem Publikum eine einzige Botschaft mitzuteilen: Es ist ein gewaltiges Problem, mit dem ich mich hier herumplage, und ihr alle könnt und sollt sehr froh sein, daß ihr jemanden wie mich überhaupt in euren Reihen habt ...
Myles Kantor war normalerweise ein stiller und sehr bescheidener Mann, aber in Augenblicken wie diesen schlich sich ein wenig Eitelkeit gleichsam durch die
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