1862 - Aufbruch der Herreach
an, wenngleich sie die Argumentation ihrem Glauben anpaßten.
Presto Go hörte sich alles eine Weile geduldig an. Dann hob sie beschwichtigend die Hände, und die Aufgeregten verstummten.
„Die göttlichen Gesetze", sagte sie ruhig, „wurden ab dem Zeitpunkt außer Kraft gesetzt, als die Terraner auf unserer Welt landeten und wir erkennen mußten, daß wir nicht allein sind."
„Aber ... aber ...", stotterte Gerek Dur, „auch das ist doch nur eine Prüfung, damit wir die Prophezeiung um so besser erfüllen können ..."
„Kummerog ist fort. Welchen Sinn hat dann noch eine Prophezeiung?"
Diese Frage stand im Raum, von Presto Go selbst formuliert. Die Priester und die Freiatmer starrten sie sprachlos an, als wäre die Oberste Künderin verrückt geworden. Dies war genau das Gegenteil von dem, was sie noch vor wenigen Monaten selbst gesprochen hatte!
„Ich habe nachgedacht", fuhr die Oberste Künder in fort. „Jede Nacht überlege ich, wie ich unser Volk retten kann. Ich weiß, was ihr alle denkt. Ich habe auch nicht vergessen, was ich noch vor einiger Zeit sagte.
Aber ich habe mich geirrt."
Das gestand sie völlig gelassen. Sie schaute alle an, bevor sie weitersprach.
„Der Glaube war uns stets wichtiger als alles andere, aber darüber dürfen wir unseren Verstand nicht vergessen."
„Du willst damit doch nicht andeuten, daß wir Strenggläubigen unseren Verstand nicht gebrauchen?"
fuhr ein weißgewandeter Clerea auf.
Presto Go ließ sich nicht aus der Ruhe bringen: „Um die Richtigkeit der eigenen Ansichten untermauern zu können, muß man sich auch intensiv mit der Gegenmeinung auseinandersetzen. Doch dann erhielt ich Beweise, daß Kummerog nicht mehr hier ist."
Sie unterbrach sich und Bali Caljono Yai an. Die Mahnerin hatte am längsten von allen die Meinung vertreten, daß Kummerog nach wie vor ein Gefangener des Pilzdoms sei. Selbst der Cleros hatte sich zuvor schon der Überzeugung angeschlossen, daß der Gott sich nicht mehr der Prophezeiung gemäß seinem Volk zeigen würde.
„Die Terraner behaupten, daß er starb", setzte Presto Go ihre Rede fort, als kein Einwand erfolgte.
„Davon konnte ich mich nicht persönlich überzeugen, deshalb stimme ich dem nicht vorbehaltlos zu. Eine Tatsache ist allerdings, daß die Prophezeiung sich nicht so erfüllt hat, wie wir sie verstanden hatten: Kummerog ist fort. Unser Gott hat uns verlassen, aus welchen Gründen auch immer"
„Welchen Sinn hat es dann ...", begehrte der Clerea von neuem auf.
Er wurde jedoch sofort von Vej Ikorad unterbrochen: „Für uns und unsere weitere Entwicklung hat das keine Bedeutung!"
„Wir müssen uns damit abfinden und uns anpassen", schlug Tandar Sel in dieselbe Kerbe. „Das entspricht doch unserer Natur!"
Caljono Yai spürte die leichte Spannung im Raum; die Differenzen zwischen den einzelnen Glaubensrichtungen waren eben doch noch nicht ganz beseitigt. Hin und wieder, ganz leise nur, meldete sich der Widerstand - doch von Mal zu Mal schwächer.
Presto Go ging einfach darüber hinweg und sprach dort weiter, wo sie unterbrochen worden war: „Dafür aber kamen andere, Lebewesen von fernen Sternen, die uns technisch weit überlegen sind. Sie haben uns von vielen Dingen berichtet. Ich habe anfänglich den Kontakt zu ihnen abgelehnt, weil sie unserem Volk die Identität zu rauben drohten. Sie wollten ..."
„Doch nicht in schlechter Absicht", warf diesmal Caljono Yai kurz und trocken ein.
„... dennoch unleugbar, daß wir uns ihnen voll und ganz anpassen. Möglicherweise wollten sie uns für ihre eigenen Zwecke ausnutzen. Dagegen habe ich mich gewehrt!"
„Und zu Recht", äußerte sich der Clerea-Priester, wieder versöhnt.
„Aber das ändert nichts an den Tatsachen, daß wir, und das betrifft uns alle hier ...", Presto Go deutete in einer umfassenden Geste auf die Anwesenden, „... unseren Glauben überdenken und neu definieren müssen. Die alten Gesetze gelten nicht mehr, und da unser Gott uns verlassen hat, müssen wir für etwas Neues sorgen, das uns ein Vorbild ist."
Vej Ikorad legte sein Nas-Organ in nachdenkliche, ein wenig kritische Falten. „Ist das nicht ein bißchen weit vorgegriffen?"
Presto Go stimmte ihm zu: „Das ist ein Ziel in weiter Zukunft. Jetzt müssen wir uns zuerst der zerstörerischen fremden Macht stellen. Die erste Bedrohung, die uns wirklich Furcht bereitet - und die gemeinsame Konzentration aller Kräfte erfordert."
Sie machte eine kurze Pause, doch ein Einwand blieb
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