1862 - Aufbruch der Herreach
aus.
„Obwohl wir gegen die unmittelbare Beeinflussung immun sind, werden wir doch davon berührt. Unser Wesen hat sich verändert. Im selben Maß aber hat auch unser Wissen zugenommen. Und in genau demselben Maß müssen wir uns von alten Vorstellungen lösen und neue Wege beschreiten. - Ja, Tarad Sul?"
Der alte Herreach blähte verblüfft sein Nas-Organ auf. Er hatte sich ganz still im Hintergrund gehalten, aber der Obersten Künderin schien wahrhaft nichts zu entgehen!
„Ich war von den Alpträumen betroffen", sagte er ohne Zögern. „Und ich habe festgestellt, daß ich mich dem nicht einfach ergeben, es nicht hinnehmen durfte. Diese Visionen verschwanden nicht, sondern ergriffen immer mehr von mir Besitz. Erst als ich von mir aus handelte, als ich mich ihnen stellte, konnte ich sie überwinden. Seither habe ich keine Alpträume dieser Art mehr. Und ich konnte damit auch anderen helfen.
Viele denken inzwischen so wie ich!"
Nun war es an Presto Go, das Nas-Organ aufzuplustern. Tarad Sul hatte wohl als Missionar gearbeitet und den Boden bereits vorbereitet!
„Was Tarad Sul damit ausdrücken will, ist ganz einfach", setzte Caljono Yai die Gedanken des Älteren fort. „Wenn wir überleben wollen, müssen wir aktiv werden. Wir müssen handeln. Wir müssen", und das Interkosmo-Wort kam mühelos aus ihrem Röhrenmund, „die Initiative ergreifen."
*
Alle schauten Presto Go an; die Neuen Realisten voller Hoffnung, die Herrachischen Freiatmer fast verzweifelt, die Priester vollkommen verunsichert.
„Das ist wahr", sagte die Oberste Künderin langsam. „Damit geben wir uns nicht selbst auf. Es ist gut für unser Volk, wenn wir endlich einmal bereit sind, uns weiterzuentwickeln. Bedenkt ein einfaches Beispiel: Seit Anbeginn der Gründung der Stadt zieht der Taumond durch Moond. Seii ebenso langer Zeit ist er eine stinkende Kloake, die Krankheiten mit sich bringt und außerdem sehr unangenehm für alle Herreach ist, die in der Nähe wohnen. Warum soll das so bleiben? Die Terraner haben uns gezeigt, wie primitiv wir sind, und sie haben uns das auch deutlich spüren lassen. Nun haben wir die Chance, ihnen zu beweisen, daß wir keine Bevormundung brauchen. Wir nehmen ihre Unterstützung an, aber nur zu einem gewissen Grad. Verantwortlich sind allein wir für uns und unser Leben. Wenn wir nicht weiterhin bevormundet werden wollen, wenn alles vorbei ist, müssen wir jetzt selbst handeln."
Die meisten Nas-Organe plusterten sich leicht auf, plötzlich motiviert.
Presto Go fügte trocken hinzu: „Abgesehen davon scheinen wir die einzigen zu sein, die das überhaupt noch können. Wir sind ebenso wie alle anderen bedroht. Wenn wir nichts tun, wird genau das passieren, was Tarad Sul gesagt hat: Das Fremde wird uns überwältigen und uns wahrscheinlich alle töten, indem es unsere Geister einsaugt, wie wir es bei den Gebeten stets bei einigen miterleben. Ich kann mir nicht vorstellen, was schlimmer sein kann - als unser aller Tod, die Vernichtung unseres ganzen Volkes, bis auf den letzten Herreach."
Dem konnte sich keiner der Anwesenden verschließen, auch die den Traditionen verbundenen Herrachischen Freiatmer nicht. Doch in ihnen kämpften zwei Seelen: Die eine, der Tradition verhaftet, wollte gern in Gleichgültigkeit versinken und alles anderen überlassen, die andere, gebildetere Seele, die die Veränderungen erlebt hatte, verlangte den Mut zum Schritt - zu einem sehr gewaltigen Schritt.
Eine wesentliche Eigenart der Herreach war der Gleichmut - doch wie weit durfte das gehen? Bei einem Massensterben zuzusehen? Den Untergang des Volkes zuzulassen?
Die Dinge waren nicht mehr so einfach wie früher. Es hatte nur wenige Möglichkeiten und keine Gefahren gegeben. Die Aufgabe war klar definiert gewesen - Kummerog zu befreien -, und darüber hinaus war jeder seiner Neigung nachgegangen. Dadurch hatte sich sogar so etwas wie Fortschritt ergeben, die Anfänge der Technik, die Errichtung von Städten.
Das Leben verlief trotzdem weiterhin in einfachen Bahnen. Man wurde geboren, wuchs auf, und irgendwann starb man. Verantwortung gab es nur für sich selbst; im begrenzten Maße für die Kinder, solange sie noch hilflos waren.
Mittlerweile waren sie nicht mehr allein; sie mußten sich mit Fremden auseinandersetzen, die mit fliegenden Schiffen durchs All reisten. Diese Fremden hatten ihnen gezeigt, welche technischen Möglichkeiten ihnen offenstanden. Sie hatten ihnen von ihrem turbulenten Leben erzählt.
Die
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