1862 - Aufbruch der Herreach
allmählich überhaupt nichts mehr."
Der junge Tandar Sel hielt sich allein in der bescheiden eingerichteten Kammer der Mahnerin auf, ohne den Sprecher der Neuen Realisten.
Das war ungewöhnlich. Normalerweise ging Tandar Sel ohne Vej Ikorad so gut wie nirgends hin. Nach menschlichen Begriffen hätte man sagen können, daß die beiden gute Freunde waren. Eine ganz neue Erfahrung für die Herreach. Sympathiebande bestanden bisher ausschließlich zwischen Vereinigungspartnern während der Fortpflanzungszyklen. Ansonsten herrschte lediglich so etwas wie eine zweckdienliche Zusammenarbeit, wenn es angebracht war.
Aber bei den Herreach war seit dem Zusammenbruch des Zeitrafferfeldes und der „Öffnung zum Universum" inzwischen so viel Ungewöhnliches geschehen, daß man nunmehr zahlreiche Veränderungen nur noch als normal bezeichnen konnte.
Die Herreach besaßen von Natur aus ein äußerst stoisches Gemüt und hatten während ihrer Entwicklung fast alles beinahe mit Fatalismus hingenommen, aber nun zehrte es doch allmählich an ihnen. Sie wurden gereizt; sie wußten nicht mehr, wohin sie gehörten. Ihr Sprachschatz hatte sich inzwischen um viele Begriffe aus dem Interkosmo erweitert, um die Veränderungen mit Worten ausdrücken und dadurch vielleicht besser verstehen zu können.
Caljono Yai begriff nur zu gut, was in Tandar Sel vorging. Ihr eigenes Weltbild war schließlich komplett zusammengebrochen. Aus der Geborgenheit des Cleros und der Hingabe an die Ausübung des Glaubens war sie von einem Moment zum anderen herausgerissen worden.
Die Neuen Realisten hatten sich schneller anpassen können; sie waren die ersten gewesen, die an Veränderungen geglaubt hatten. Sie hatten sich für ihre Welt interessiert; sie wollten die Zusammenhänge des Lebens und der Entwicklung ihres Volkes ergründen. Als erste hatten sie eine Art Gemeinschaft gebildet, in der jeder zwar eine Aufgabe seiner Überzeugung gemäß erhielt; darüber hinaus tauschten sie ihre Gedanken und Meinungen aus.
„Irgendwann ist es einfach zuviel, verstehst du?" fuhr Tandar Sel fort.
„Aber gerade ihr Neuen Realisten solltet damit besser zurechtkommen", versetzte Caljono Yai. „Ihr wolltet doch von Anfang an dazulernen. Sieh mich an, Sel! Ich habe zudem noch meinen Glauben verloren."
Sie hatte noch lange zäh an dem Glauben festgehalten, daß der Gott Kummerog weiterhin im Pilzdom gefangen war. Bis die Zwillingsschwestern Mila und Nadja Vandemar glaubhaft versichert hatten, daß das Heiligtum der Herreach leer sei -und sie ihnen das glauben mußte.
„Ich habe aber den Eindruck, daß du gut damit zurechtkommst", behauptete Tandar Sel.
„Kann sein. Ja, möglicherweise. Ich lenke mich auf diese Art und Weise ab. Vielleicht ist das auch meine Art, nach meinem Glauben zu suchen."
Darüber wollte die Mahnerin nicht zu sehr nachdenken. Ihr verlorener Glaube und ihr Kummer über die Veränderung der Welt waren angesichts der Bedrohung absolut zweitrangig. Das unterschied die Neuen Realisten noch von den anderen Herreach: Selbst angesichts solcher bedrohlicher Veränderungen stellten sie noch alles in Frage. Zum Glück jedoch verrannten sie sich nicht darin; sie waren sehr wohl in der Lage, Prioritäten zu setzen.
„Es ist ...", begann sie und fuhr, durch einen plötzlichen Lärm von draußen aufgeschreckt, hoch. „Was ist denn da los?"
Gemeinsam mit Tandar Sel lief sie über den Gang hinaus zum Betfeld, das von ihrer Kammer aus direkt erreichbar war. Einige Priester hatten sich dort bereits eingefunden und versuchten zwei ineinander verklammerte Herreach zu trennen.
„Was ... was tun sie da?" rief Tandar Sel.
„Sie verstehen es nicht mehr", antwortete Caljono Yai rätselhaft. „Niemand versteht mehr."
Die beiden Herreach kämpften auf völlig untypische Weise miteinander, dazu stießen sie abgehackte, gurgelnde Laute aus. Ihre bebenden Nas-Organe waren weit aufgebläht. Mit kräftigen Stelzbeinen und langen Armen schlugen sie aufeinander ein. Erst nach einiger Zeit gelang es den anderen endlich, die beiden zu trennen.
Dann erst fiel ihnen auf, daß die beiden Kämpfer die Augen die ganze Zeit über fest geschlossen hatten.
Sie schliefen!
Tandar Sel wandte sich Caljono Yai zu, zutiefst erschrocken.
„Wird es je aufhören?" fragte er. „Oder immer noch schlimmer werden, sich immer weiter steigern?"
„Wie ich bereits sagte", gab die Mahnerin zurück. „Niemand versteht mehr."
*
Presto Go nahm den Vorfall sehr ernst. Der
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