1862 - Aufbruch der Herreach
Morgen war inzwischen angebrochen, und Caljono Yai hatte sich bei ihr eingefunden, nachdem die beiden Herreach zur Beobachtung auf eine Krankenstation gebracht worden waren.
„Die Beeinflussung läßt also nicht nach", meinte die Oberste Künderin düster.
„Und es wird noch so weitergehen", befürchtete Caljono Yai. „Die Alpträume hören nicht auf. Sie beeinflussen uns inzwischen offensichtlich derart, daß manche sogar dazu gezwungen’ werden, aufzustehen und Dinge zu tun, die sie im Wachen nicht tun würden. Sie wachen davon nicht einmal auf, was am beunruhigendsten ist. Es ist wie eine Art Trance, aber ganz anders als die unserer Gebetsrunden."
„Hast du mit den beiden Beteiligten sprechen können? Wenn nein, möchte ich ..."
„Ich konnte mit einem sprechen", unterbrach die Mahnerin. „Mit dem älteren Mann, Tarad Sul. Die andere war eine junge Frau namens Ragin Da."
„War?"
„Ja, leider. Sie ist gestorben. Sie kam gar nicht mehr zu sich. Wir brachten sie in die Station, und kurz darauf blieb ihr Herz stehen. Sie hatte jedoch keine schwerwiegende Verletzung, ein paar Prellungen vielleicht durch den Kampf mit Tarad Sul, aber daran hätte sie auf keinen Fall sterben dürfen."
Presto Gos Nas-Organ plusterte sich auf doppelte Größe auf.
„Sie starb?" wiederholte sie. „Einfach so? Im Schlaf?"
„Sie war nur wenig jünger als ich, eine begabte Clerea. Weder ich noch die anderen haben eine Erklärung, weshalb sie starb. Auch Tarad Suls Erzählung konnte uns keinen Aufschluß geben."
Der ältere Herreach hatte den Alptraum und das Schlafwandeln ohne größeren Schaden überstanden, so wurde Presto Go von der Mahnerin berichtet. Er zeigte sich allerdings sehr verwundert, daß er während des Kampfes geschlafen haben sollte.
Seine Schilderung des Alptraums und der Auseinandersetzung mit den monströsen Schatten war so lebendig, daß auch Caljono Yai beinahe gezweifelt hätte - aber sie war selbst Zeugin des Vorfalls gewesen. Sie hatte keine Schatten gesehen, wohl aber zwei ineinander verklammerte Herreach.
Was Ragin Da geträumt haben mochte - darüber konnte nur spekuliert werden. Vielleicht denselben Traum wie Tarad Sul, vielleicht einen ganz anderen.
„Einen Vorfall dieser Art hatten wir noch nie", schloß Caljono Yai. „Ich bin vollkommen ratlos, Presto Go. Tarad Sul scheint weiter keinen Schaden davongetragen zu haben. Er fühlt sich sogar erholt, weil er angeblich die Schatten besiegt hat."
„Sein Traum endete?"
„Das ist sehr verschwommen. Ich denke, er legt mehr hinein, als tatsächlich da war. Meiner Ansicht nach kann er sich ab dem Zeitpunkt seines Angriffs auf die Schatten an nichts Konkretes mehr erinnern und setzt die Stücke bewußt zusammen. Was können wir in Zukunft gegen solche Vorfälle unternehmen, Presto Go?"
„Was fragst du mich? Ich weiß es nicht, Yai. Wir sind einer neuen Gefahr begegnet - uns selbst. Wir geraten außer Kontrolle. Ich weiß nicht, wo das noch hinführen wird."
Caljono Yai musterte die ältere Frau. „Hoffentlich schlägst du jetzt nicht einen anderen Weg ein", sagte sie zögernd.
„Du meinst, mit allem aufzuhören und das Volk wieder übers Land zu verstreuen? Es stimmt, ich habe daran gedacht. Aber wohin würde das führen? Wir können uns verstecken und die Augen schließen, aber deswegen ist die Gefahr immer noch da. Wenn es nur von uns ausginge, würde ich verlangen, daß wir zu unserer früheren Lebensweise zurückkehren. Aber so? Wir haben gesehen, daß etwas auf der anderen Seite ist, wo auch immer diese Seite oder Dimension sein mag. Die Terraner sind ebenso Wirklichkeit und ihre ferne Welt und ihre Raumschiffe. Die Sterne, die wir am nächtlichen Himmel sehen, sind Wirklichkeit. Sie waren immer da, wir konnten sie nur nicht sehen - weil wir auf eine gewisse Weise in einem sehr langen Schlaf geträumt haben und nun erst erwacht sind."
Sie hielt kurz inne und verzog ihr Nas-Organ, bevor sie weitersprach.
„Yai, ich habe versucht, unsere alte Lebensweise zu bewahren, solange es nur um uns und unsere weitere Entwicklung ging, die möglichst unbeeinflußt vonstatten gehen sollte - in diesem bescheidenen Rahmen. Aber dieses furchtbare Wesen, das wir durch den Strukturriß spüren konnten, ist da. Ich kann es nicht einfach wegdenken. Ich habe viele Herreach sterben sehen und erkannt, daß die Macht der Terraner nicht so weit geht, wie sie uns glauben machen wollten. Zwei von ihnen sind tot, die übrigen gefangen auf der anderen
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