188 - Der lebende Nebel
so etwas möglich?
»Mon dieu«, lallte Victorius und blieb stehen. »Ich komme mir irgendwie berauscht vor.« Er schaute sich um, ließ sich in die Mulde gleiten und schaute die vierbeinige Kreatur an. »Ist das Leben nicht schön?«
»Klar«, sagte Chira. Vielleicht hatte sie auch nur »Klrnr« gemacht; Victorius war sich nicht ganz sicher. Er wusste nur eins: Der Urwald und seine bunten Blüten waren ein göttlicher Anblick. Gegen den Duft der Blumen in dieser Wildnis war das gepflegte Grün in den fliegenden Metropolen seiner Heimat ein Gestrüpp.
Wo war er überhaupt? Victorius schaute in die Richtung, aus der er gekommen war. In welchem Lande war er unterwegs? Und noch wichtiger: Wieso juckte es ihn überall – und vor allem im Gesicht? Was war das für ein Zeug, das in seinen Adern brodelte?
Er nahm eine ziemlich nachlässige telepathische Introspektive vor und sah, dass eine grüne Flüssigkeit – zäh wie Honig – durch seine Adern floss.
Es war angenehm! Fast so schön wie die Liebe.
Victorius ließ sich in die Mulde sinken. Schlafen, ja. Und schöne Träume genießen. Das war es, was er jetzt brauchte.
Chira schien zu spüren, dass Victorius in seinem hilflosen Zustand Schutz brauchte: Sie legte sich neben ihn und behielt die Umgebung im Auge.
Der Kopf des afrikanischen Prinzen hatte den Boden kaum berührt, als er auch schon geräuschvoll zu schnarchen begann.
***
Die den Tempelplatz flankierenden Statuen glotzten den atemlosen Sampang aus trüben Fischaugen an, als er aus dem Busch stürzte.
Die Sichtung des Weißen Folterknechts hatte ihn so aufgewühlt, dass er eine der Fußangeln übersah, die Wagong und er vor einem Jahr hier angebracht hatten.
Es machte Twänggg. Eine Schlinge riss sein linkes Bein vom Boden hoch, und schon hing Sampang mit dem Kopf nach unten in der Luft und schwang langsam hin und her.
Es dauerte eine halbe Minute, bis er es wagte, um Hilfe zu rufen. Und weitere endlos lange Minuten, bis Wagong endlich zwischen den Säulen des Portals auftauchte, das in den Gang und dann in den Tempel führte.
Der Tempel selbst war vor einer Ewigkeit bei einem Beben versunken. Gestein, Erde und entwurzelte Bäume hatten seine Trümmer verdeckt und einen Hügel aufgeschüttet, der längst von Bäumen und Gesträuch bewachsen war.
Nur wenige Bereiche des Tempels waren noch begehbar.
Das Portal war der einzige Zugang zu den kühlen Sälen, in denen köstlicher Grindrim-Likör in bauchigen Fässern gärte.
Der Urgroßvater der Gebrüder Saleh hatte das Rezept erdacht.
Seit seinem Ableben wachte die Familie argusäugig darüber, dass niemand es stahl. Der Likör, den die Salehs inzwischen in der vierten Generation auf den Markt brachten, war in Kreisen von Fürsten und neureichem Pack gleichermaßen begehrt. Die Familie Saleh lebte gut von der Brennerei.
»Ich weiß nicht mehr, was ich mit dem Gelbschnabel machen soll«, hörte Sampang seinen Bruder zu jemandem sagen, der im Schatten der Portalsäulen stand. »Seit er die Zeichnungen im Gewölbe der Kultisten gefunden hat, hat er fast täglich haarsträubende Visionen. Er glaubt, dass die dämlichen Statuen, die hier überall im Busch herumstehen, einen real existierenden Fischgott abbilden. Heute Morgen sind ihm sogar die Boten des Fischgottes begegnet! Sie sehen angeblich aus wie aufrecht gehende Leguane.« Wagong seufzte. »Ich glaube, er leidet an einer schlimmen Form von Nervenfieber.« Er murmelte etwas, das wie ein Fluch klang.
»Ich glaube, ich werde unseren ehrenwerten Bruder Kaoma bitten, ihn mit dem Katamaran nach Loaloa mitzunehmen, damit sich ein Heiler um ihn kümmert.«
Sampang errötete. Dass sein Zweitältester Bruder ihn für verrückt hielt, war niederschmetternd. Er wagte kaum den Mund aufzumachen, um seine Hilfe zu erflehen. Doch es war nicht nötig: Wagong und Vetter Abdul, der Mann, mit dem er gesprochen hatte, ließen das Portal hinter sich und kamen zu ihm.
Wagong gab Abdul ein Zeichen, und dieser trat hinter den langsam baumelnden Sampang und schnitt ihn ab.
Sampang schützte sein Haupt mit den Händen, drehte sich wie eine Katze und fiel auf den Rücken. Er war im Nu auf den Beinen und verbeugte sich vor seinem ehrenwerten Bruder.
Denn auch wenn der glaubte, er litte an Halluzinationen: Er musste die Wahrheit erfahren!
»Ein Götterwagen ist gelandet«, stieß Sampang hervor, damit Wagong ihm nicht das Wort abschnitt. »Ich habe ihn mit eigenen Augen gesehen.« Er holte so schnell Luft, dass er
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