19 - Am Jenseits
zielen. Treffe ich gut, so ist er für das ganze Leben untauglich gemacht, und das ist für einen Beduinen schlimmer als der Tod, weil er daheim bei den Schwachen, den Greisen, Frauen und Kindern hocken muß.“
„So wollte ich, der Kampf mit der Flinte wäre für mich bestimmt!“ sagte Kara, welcher als Mitkämpfer das Recht fühlte, aus der stets von ihm geübten, bescheidenen Zurückhaltung herauszutreten. „Hadschi Halef, mein Vater, wird dir bestätigen, Effendi, daß ein Fehlschuß jetzt bei mir etwas höchst Seltenes ist. Doch schaut! Was will der Blinde? Er kommt grad auf uns zu!“
Der Münedschi hatte bei den Mekkanern gegessen. Jetzt war er mit einer raschen Bewegung, als ob er unter einem plötzlichen Entschluß handle, aufgestanden und kam mit großen, sichern Schritten, als ob er ganz gut sehen könne, auf die Stelle zu, an welcher wir standen. Er hielt die Linie so genau und so gerade ein, daß wir auseinander treten mußten, um den Zusammenstoß mit ihm zu verhüten.
„Effendi, komm mit mir! Du allein!“ forderte er mich auf, indem er, ohne anzuhalten, zwischen uns hindurchging.
Das war nicht nur sonderbar, sondern erstaunlich! Woher wußte er, wo wir standen und daß ich mit dabei war? Hatten die Mekkaner es ihm gesagt? Aber auch in diesem Fall wäre die von ihm gezeigte Sicherheit nicht zu erklären gewesen! Und er hatte nicht mit seiner, sondern mit Ben Nurs Stimme gesprochen. Sein Gesicht zeigte das Aussehen der Leblosigkeit, der Todesstarre, und als er sprach, hatte er die Lippen kaum bewegt. Er schritt ganz in derselben Weise weiter, grad auf den Felsen Ben Nurs, und ich folgte ihm. Wollte er wieder hinauf? Es konnte gar kein Zweifel darüber sein, daß er geistes- oder, wenn dies bezeichnender sein sollte, seelisch abwesend war, jetzt, am hellen, lichten Tag! War das auch Somnambulismus?
Noch ehe er den Felsen erreicht hatte, blieb er stehen, drehte sich nach mir um und sagte, wieder nicht mit seiner eigenen Stimme:
„Effendi, ich liebe dich! Ich liebe alle Wesen Gottes und also auch alle Menschen, doch, sehe ich ein dem Gesetze der Liebe so freiwillig geöffnetes Herz, so neigt es mich ihm mit besonderer Liebe zu. Die Worte der Güte, welche du jetzt sprachst, ich habe sie gehört. Du willst das Leben eurer Feinde schonen und achtest also die ihnen gegebene Vorbereitungszeit; das wird dir für das Jenseits eingetragen und schon auch hier vergolten, denn ihr werdet Sieger sein. Doch warne ich dich vor dir selbst und vor El Aschdar (Drache), der das Verderben der Menschen will und auch das deinige. Vor dir selbst, denn du bedrohst dich als dein eigener Feind.“
Er nahm meine Hand in seine Linke, strich mit der Rechten leise, zärtlich darüber hin und fuhr fort:
„Sei ja nie stolz auf deine Liebe! Der Himmel hat sie dir geliehen; sie ist also nicht dein, sondern sein Eigentum, welches du ihm, nachdem du sie hier wirken ließest, mit Zins und Zinseszins zurückzugeben hast. Sie ist das höchste, größte Gut des Lebens, und darum hat der, welcher sie empfing, viel mehr Verantwortung zu tragen und viel strengere Rechenschaft abzulegen als jene Seelen, denen weniger anvertraut worden ist. Denk nicht, du seist ein besserer Mensch als sie! Vom armen Steppenstrauch wird nur bescheidenes Grünen, vom Baume an dem Wasser aber Frucht gefordert werden. Bilde dir also nichts auf die Früchte deiner Liebe ein! Deine Pflicht ist's, sie zu bringen, und wenn du sie bringst, so hast du nichts als eben nur deine Pflicht getan und darfst nicht meinen, Anspruch auf besonderen Lohn zu haben. Dies ist der Grund, daß ich dich vor dir selbst zu warnen habe. Gehorche mir! Dein Schutzgeist steht bei dir. Du siehst ihn nicht; mich aber bat er, dir zu sagen, was du jetzt vernommen hast. Er leitet dieses Blinden Hand, deren Berührung eine Liebkosung von ihm ist für dich, dem er den rechten Weg zu zeigen hat.“
Hierauf ließ er meine Hand los und sprach weiter:
„Und vor El Aschdar warne ich dich auch. Du hast mit ihm gekämpft, solange du lebst; er hat dich oft zum Fall gebracht, doch standest du immer wieder auf, gehoben von deinem eigenen Willen und gehalten von der unsichtbaren Hand, die dich beschützt. Diese Hand ist ohne diesen deinen Willen schwach; mit ihm vereint aber wird sie riesenstark. Darum leiste auf dein Wollen nie Verzicht; es wird im Schutz des Himmels zum Vollbringen! Dein Wille, der nach der Vereinigung mit Gottes Willen strebt, gewinnt durch diese Vereinigung eine Macht, welcher
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