19 - Am Jenseits
Wünschen, die sie vielleicht erfüllen könnten. Er bat wieder um Wasser. Als er nun zum dritten Male seinen immer wiederkehrenden Durst gelöscht hatte und wir ihn fragten, ob er nicht auch Hunger habe, antwortete er:
„Ich weiß nicht, wie lange ich nicht gegessen habe, denn ich war nicht in meinem Körper und habe keine Augen für den Unterschied zwischen Tag und Nacht. Der Morgen ist für mich grad wie der Abend, und nur wenn von einem mir ganz nahen Gegenstande der Sonnenstrahl in das Auge zurückgebrochen wird, kann ich ihn als Schatten mit verschwommenen Umrissen erkennen. Als ich zum letztenmal aß, wird es am Jom el Guma (Freitag) früh gewesen sein.“
„Und heute ist Jom el Itnehn (Montag)“, rief Halef. „Du hast also drei volle Tage nichts genossen!“
„Ich habe doch noch keinen Hunger. Aber Tabak, Tabak, den gebt mir, wenn ich euch darum bitten darf!“
Da hatte er auch schon eine alte Pfeife mit kurzem Rohre und ungewöhnlich großem Kopfe aus der Tasche seiner weiten Hosen gezogen und steckte sie in den Mund. Seine Bitte wurde in, ich möchte sagen, inbrünstigem Tone ausgesprochen, und in seinem Gesicht drückte sich dabei eine Sehnsucht, ja fast eine Gier aus, welche die Erfüllung des Wunsches kaum erwarten konnte. Und als dies geschehen war, rauchte, nein, qualmte er mit einem Eifer, als ob sein Leben daran hänge, die Pfeife so bald wie möglich wieder stopfen zu können. Eine solche Leidenschaftlichkeit hätte ich einem Blinden niemals zugemutet. Sie würde mich wahrscheinlich auf den Gedanken gebracht haben, daß die Blindheit doch und doch erdichtet sei, aber ich hatte nun trotz der Kürze der Zeit die Beobachtung gemacht, daß der Blick dieser schönen Augen leer und seelenlos war und die Wimpern fast unbeweglich blieben.
„Der arme, blinde Mann!“ raunte Hanneh mir mitleidig zu. „Soeben erst vom Tode erstanden, von seinen Freunden verlassen, mitten in der Wüste! Sihdi, was hast du über ihn beschlossen?“
Ich winkte ihr beruhigend zu und öffnete schon den Mund zum Sprechen, als Halef, welcher meine Absicht erriet, mir schnell die leise Frage vorlegte:
„Effendi, du willst ihm sagen, wer wir sind?“
„Ja“, antwortete ich ebenso leise.
„Erlaube, daß ich dies tue! Ich kenne uns ja ebenso gut, wie du uns kennst!“
Er setzte sich an die andere Seite des Blinden, zu dessen Linken ich saß, nieder und erklärte ihm:
„Du wirst jetzt zwei sehr berühmte Männer kennen lernen; höre also mit Aufmerksamkeit, was ich dir sagen werde! Ich bin nämlich Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah, der oberste Scheik der Haddedihn vom großen Stamme der Schammar. Und der Mann an deiner andern Seite ist der größte Gelehrte des Morgen- und des Abendlandes. Er ist eigentlich der ‚Alim el Ulema‘ (Gelehrter aller Gelehrten), denn in seinem Kopfe befinden sich tausend Fächer, und in jedem Fache stecken über hundert vollständige Wissenschaften, die er auf zweihundertsechzig Medahris (Universitäten) studiert und überwunden hat. Er stammt aus dem Lande des äußersten Maghreb, denn er ist im Wadi Draha geboren, woher bekanntlich die klügsten Leute kommen, und sein Name – – –“
„Kutub!“ unterbrach ich ihn.
„Was? Was meinst du?“ fragte er mich, in seinem Eifer nicht an die zwischen uns vereinbarte Bedeutung dieses Wortes denkend.
„Kutub, Kutub!“ wiederholte ich.
„Wahajahti!“ rief er aus, sich jetzt besinnend. „Bei meinem Leben, jetzt habe ich mich versprochen gehabt! Ich hätte mich hinterher und dann dich voransetzen sollen!“
„Das hast du ja schon getan!“
„Was? Nein!“
„Doch! Du hast dann mich vorangesetzt, nämlich dann!“
„Wallahi fasl – das ist eine sonderbare Geschichte, bei Allah! Verzeihe mir, Effendi! Ich werde es sofort besser machen und wieder von vorn anfangen, indem ich zunächst deinen Namen und dann erst den meinigen nenne!“
„Das ist nun nicht nötig. Nenne zuerst meinen, und dann lassest du deinen weg, weil du ihn schon genannt hast!“
„Aber er muß doch unbedingt hinterherkommen, sonst beleidigt es dich!“
„Aber wenn du ihn noch einmal sagst, so hast du den meinigen nur einmal und den deinigen aber zweimal genannt, was doch noch viel beleidigender ist!“
„Gut, du sollst deinen Willen haben, weil du aus dem äußersten Maghreb stammst und im Wadi Draha das erste Licht der Welt erblickt hast! Also dein hochberühmter Name lautet Hadschi Akil Schatir el
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