19 Minuten
jugendlichen Angeklagten zu tun hatte. Als Richterin musste sie sich ausschließlich auf die Beweislage konzentrieren. Die Rückkehr zu ihren Anfängen als Pflichtverteidigerin war da naheliegend gewesen und hatte ihr gutgetan. Sie konnte jetzt bestens nachempfinden, was ihre Mandanten fühlten. Sie traf sich mit ihnen, wenn sie ihre Tochter im Frauengefängnis besuchte. Angeklagte mochten sie, weil sie nicht herablassend war und ihnen ehrlich sagte, wie ihre Chancen standen. Alex Cormier machte niemandem etwas vor.
Patrick führte sie zu der Stelle, an der früher das hintere Treppenhaus gewesen war. Jetzt erhob sich dort das große gläserne Atrium, das auch den Bereich der ehemaligen Sporthalle samt Umkleideraum überspannte. Draußen konnte man den Sportplatz sehen, auf dem gerade eine Klasse den frühlingshaften Tag ausnutzte und Fußball spielte. Drinnen standen Holztische und Hocker für die Schüler, die hier zusammensitzen oder lesen oder etwas essen konnten.
An einer Seite standen direkt an der Glaswand zehn Stühle. Anders als die übrigen Sitzgelegenheiten im Atrium hatten sie Rückenlehnen und waren weiß gestrichen. Wenn man genau hinschaute, sah man, dass sie am Boden festgeschraubt waren. Sie standen nicht exakt in einer Reihe und die Abstände zwischen ihnen waren ungleichmäßig. Sie trugen keine Namen oder Gedenkplaketten, aber jeder wusste, wofür sie standen.
Alex spürte, wie Patrick hinter sie trat und die Arme um ihre Taille schlang. »Es ist fast so weit«, sagte er, und sie nickte.
Als sie nach einem der leeren Hocker griff und ihn zur Glaswand ziehen wollte, nahm Patrick ihn ihr aus der Hand. »Meine Güte, Patrick«, sagte sie leise. »Ich bin schwanger, nicht krank.«
Auch das war eine Überraschung gewesen. Das Baby sollte Ende Mai kommen. Alex versuchte, es nicht als Ersatz für die Tochter zu sehen, die noch weitere vier Jahre absitzen musste; lieber stellte sie sich vor, dass dieses Kind vielleicht die Rettung für sie alle war.
Patrick sank neben ihr auf einen Hocker, und Alex blickte auf ihre Uhr: 10 Uhr 02.
Sie holte tief Luft. »Es sieht alles ganz anders aus.«
»Ich weiß«, sagte Patrick.
»Meinst du, das ist gut?«
Er überlegte einen Moment. »Ich meine, das ist notwendig«, antwortete er.
Alex bemerkte, dass der Ahornbaum, der vor dem Fenster des Duschraumes im ersten Stock gestanden hatte, nicht für den Bau des Atriums gefällt worden war. Von ihrem Sitzplatz aus konnte sie das Loch in der Rinde nicht sehen, aus dem die Kugel herausgeschnitten worden war. Der Baum war riesig, der Stamm dick und knorrig, die Äste ausladend. Wahrscheinlich hatte er schon lange vor der Gründung der Highschool hier gestanden, vielleicht sogar noch bevor das Städtchen Sterling entstand.
10 Uhr 09.
Sie spürte Patricks Hand auf ihren Schoß gleiten, während sie den Fußball spielenden Kindern zusah. Die beiden Mannschaften schienen extrem ungleich. Da spielten Schüler, die schon in der Pubertät waren, gegen Schüler, die noch zart und klein waren. Alex sah, wie ein Stürmer einen Verteidiger der Gegenmannschaft überrannte und dann den Ball ins Tor knallte.
Trotz alledem, dachte Alex, hat sich nichts geändert. Sie blickte wieder auf die Uhr: 10 Uhr 13.
Die letzten Minuten waren natürlich die schwersten. Alex merkte, dass sie aufgestanden war und die Hände flach gegen die Scheibe drückte. Sie spürte das Baby in ihrem Bauch strampeln, eine Antwort auf das dunkle Ziehen ihres Herzens. 10 Uhr 16. 10 Uhr 17.
Der Stürmer trabte zu der Stelle zurück, an der der Verteidiger hingefallen war, und hielt ihm die Hand hin, um den kleineren Jungen hochzuziehen. Sie gingen zurück zur Mittellinie, unterhielten sich dabei.
Es war 10 Uhr 19.
Sie schaute wieder zu dem Ahornbaum hinüber. Der Saft stieg noch. In wenigen Wochen würde sich ein rötlicher Hauch auf den Ästen zeigen. Dann Knospen. Und dann eine Explosion von Blättern.
Alex nahm Patricks Hand. Sie gingen schweigend aus dem Atrium, den Flur entlang, an den Reihen mit offenen Fächern vorbei. Sie durchquerten die Eingangshalle und traten durch die große Flügeltür nach draußen, gingen den Weg zurück, den sie gekommen waren.
Danksagung
Als Erstes danke ich dem Mann, der zu mir nach Hause kam, um mit einer Handfeuerwaffe auf einen Holzstapel in meinem Garten zu schießen: Captain Frank Moran. Ich danke auch seinem Kollegen Lieutenant Michael Evans für die präzisen Auskünfte über Schusswaffen sowie Polizeichef
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