1913
Tage im Café Central und spielt Schach, 1913 gilt »Herr Bronstein« als der beste Schachspieler in der Wiener Kaffeehausszene, und das will etwas heißen. Immer wenn er Geld braucht, bringt er wieder einige seiner Bücher ins Leihhaus, eine andere Wahl hat er nicht.
Stalin arbeitet Anfang Februar weiter an »Marxismus und die nationale Frage«, das sein berühmtestes Werk werden wird – und das Völkergemisch in Österreich-Ungarn ist ihm anschauliches Lehrbeispiel. Stalin entwickelt in Wien die Idee eines Zentralreiches hinter scheinbarer nationaler Autonomie – also letztlich die Programmatik der Sowjetunion. Stalin, von seinen Freunden »Sosso« genannt, redet auch mit den Kindern der Trojanowskis über nichts anderes. Er versucht kurz, mit dem Kindermädchen zu flirten, daraus wird aber nichts, darum stürzt er sich wieder in seine Arbeit. Nun gut, für eine praktische Anwendung der Übel des Kapitalismus hat er kurz Zeit. Er wettet mit der Mutter, als sie wieder einmal zusammen im Schönbrunner Park sind, dass Galina, die temperamentvolle Tochter, zu ihm gelaufen komme, wenn sie beide sie rufen, bloß weil sie hofft, dass er wieder Bonbons für sie gekauft hat. Auch in diesem Falle behält er recht.
Zwei Männer besuchten ihn in dieser Zeit in der Wohnung der Trojanowskis. Nikolai Bucharin hilft ihm bei Übersetzungen, was ihn freut, kann aber, anders als Stalin, bei dem Kindermädchen landen, was dieser ihm zeitlebens nicht verzeihen wird (und wofür Bucharin irgendwann einmal mit einer Kugel im Kopf bezahlen muss). Und auch Trotzki kommt einmal zufällig vorbei: »Ich saß neben dem Samowar am Tisch in der Wohnung von Skobelow … in der alten Hauptstadt der Habsburger«, schreibt Trotzki, »als sich die Tür plötzlich nach einem Klopfen öffnete und ein unbekannter Mann eintrat. Er war klein … dünn … Pockennarben bedeckten seine graubraune Haut … Ich sah nicht den geringsten Anflug von Freundlichkeit in seinen Augen.« Das war Stalin. Er holte sich eine Tasse Tee vom Samowar und ging so leise hinaus, wie er gekommen war. Er hatte Trotzki nicht erkannt – zum Glück, denn in Artikeln hatte er ihn bereits einen »marktschreierischen Athleten mit falschen Muskeln« genannt.
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In ebenjenem Februar 1913 , als sich Stalin und Trotzki das erste Mal sehen, wird im fernen Barcelona der Mann geboren, der später auf Geheiß Stalins Trotzki ermorden wird. Er heißt Jaime Ramón Mercader del Río Hernández.
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Am 23 . Februar wird Josef Stalin in St. Petersburg auf offener Straße festgenommen. Er rennt in Frauenkleidern und einer Perücke um sein Leben. Das hat weder etwas mit dem Fasching noch mit speziellen Neigungen zu tun. Nein, der Revolutionär hält sich illegal in Russland auf und hat die Kleider zuvor aus der Garderobe einer musikalischen Benefizveranstaltung für die »Prawda« gestohlen, die durch eine polizeiliche Razzia gesprengt wurde. Die Polizei stellt den hinkenden Flüchtling und reißt ihm das bunte Sommerkleid und die Perücke vom Leib, darunter kommt die Gestalt Stalins zum Vorschein. Er wird erkannt und nach Turuchansk in Sibirien verbannt.
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Es gab im aufgewühlten Wien eine Affäre, die selbst den Wienern den Atem raubte. Alma Mahler, das schönste Mädchen Wiens mit legendärer Taille und ausladendem Busen, frisch verwitwet nach dem Tod des großen Komponisten, war noch in Trauerkleidung Oskar Kokoschka verfallen, dem hässlichsten Maler Wiens, dem ungestümen Provokateur, der immer mit hängenden Hosen oder geöffneten Hemden herumlief und dessen berühmtestes Stück »Mörder, Hoffnung der Frauen« hieß – und der das auch genau so meinte. Kaum hatte er die junge, schöne Witwe im Sturm erobert, bekam er es mit der Angst zu tun. Aber nicht vor ihr – sondern vor potentiellen Nebenbuhlern: »Almi, ich möchte nicht, dass irgendein Auge Deinen offenen Busen sieht, im Schlafrock oder Kleid. Behüte meine Geheimnisse Deines lieben Leibes.« So schonungslos sexuell wie die Briefe und die Affäre zwischen Kokoschka und Alma Mahler war kaum etwas im Wien des Jahres 1913 – tagsüber durfte Alma ihrem gesellschaftlichen Leben als erste Witwe der Stadt nachgehen, mit Empfängen und Salons in ihrer eigenen Wohnung. Aber nachts machte Kokoschka seine Rechte geltend. Er könne nur arbeiten, wenn er jede Nacht mit ihr schlafen könne, so sagt er ihr, und sie ist besessen von seiner Besessenheit. Als er sie malen soll im Haus ihrer Stiefeltern Moll, da zieht sie ihn ins
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