1913
kalten Berliner Winter treffen und einander annähern, sind Gescheiterte, 44 und bald 26 Jahre alt. Else Lasker-Schüler, die einst behütete Bankierstochter aus Elberfeld, bettelarm, sich wochenlang nur von Nüssen und Obst ernährend, von Fieber gepeinigt, zieht mit ihrem Sohn durch die Nacht, haust unter Brücken und in Pensionen, schnorrt sich jede Tasse Kaffee. Mit ihren verschlissenen orientalischen Gewändern wirkt sie wie ein Clochard aus Tausendundeiner Nacht. Sie dichtet auf geklauten Telegrammformularen aus dem Hauptpostamt. Benn auf der anderen Seite, der verirrte behütete Pfarrerssohn vom Lande, sucht verzweifelt nach seiner Profession, er ist gerade zum zweiten Mal gescheitert, erst als Arzt in der Psychiatrie der Charité, dann als Truppenarzt, wo man ihn auf Zwangsurlaub schickt. Gutachten bescheinigen ihm Probleme im Umgang mit Menschen. Man empfiehlt den Umgang mit Leichen. Kurz nach seinem Dienstantritt in der Pathologie stirbt die geliebte Mutter. Und Benn, inzwischen routiniert im Zunähen, dichtet: »Ich trage dich wie eine Wunde auf meiner Stirn, die sich nicht schließt«. Das ist der biographische Moment, in dem sich Benn und Lasker-Schüler wahrnehmen und wie zwei Ertrinkende aneinander ketten. »O Deine Hände«, heißt Lasker-Schülers Gedicht aus dem Oktober 1912 – und daran erkennt man das erste Mal auf ihrem Herzen die Handschrift des Dr. Gottfried Benn. Sie kann ihm, welch Glück, sogar auf Hebräisch schreiben, der Pfarrerssohn kennt das Alte Testament aus der Theorie. Nun also die Praxis.
Kann das gutgehen?
◈
In der Berggasse 19 , der schon seinerzeit berühmtesten Adresse Wiens, sitzt Dr. Sigmund Freud. Seine Analysen hatten ihn reich gemacht, bis zu elf Sitzungen schafft er noch an einem Tag, 100 Kronen bekommt er für jede, so viel wie seine Hausangestellten in einem ganzen Monat. Dass er aber nach dem Tod von Gustav Mahler an dessen Nachlassverwalter schrieb und die Kosten für einen gemeinsamen Spaziergang mit dem Komponisten einzutreiben versuchte, das hat ihm Alma Mahler ein Leben lang übel genommen. Er ist 1913 eine Legende, seine Forschungen zu Träumen und Sexualität sind Allgemeingut, wenn Schnitzler oder Kafka ihre Traumbilder notieren, dann gerne mit der Frage, was wohl Dr. Freud dazu sagen würde. Er forschte über die Sexualität, die die anderen verdrängten – und die er nach heutigem Forschungsstand in jenem Jahr 1913 selbst verdrängte. Nachdem ihm seine Frau sechs Kinder geboren hatte, zog er offenbar die Enthaltsamkeit vor, Affären sind nicht bekannt, nur sein ungeklärtes Verhältnis zu Minna Bernays, der Schwägerin, die mit im Hause wohnte, gibt Anlass zu Spekulationen, aber nichts Genaues weiß man nicht.
Es amüsierte Freud, dass die Wiener seine Forschungen über das Verdrängte und das Unbewusste in dem Moment ernst nahmen, als er zum Professor ernannt worden war. »Es regnet jetzt schon Glückwünsche und Blumenspenden, als sei die Rolle der Sexualität plötzlich von Seiner Majestät amtlich anerkannt, die Bedeutung des Traumes vom Ministerrat bestätigt.«
◈
Schon den Zeitgenossen kamen Dr. Freud und Dr. Schnitzler wie siamesische Zwillinge vor: Hier die »Traumdeutung«, da die »Traumnovelle«, hier der Ödipuskomplex, da »Frau Beate und ihr Sohn«. Aber gerade weil sie sich offenbar so nahe waren, gingen sie sich höflich aus dem Weg. Einmal raffte sich Freud auf und schrieb Schnitzler von seiner Scheu, ihn zu treffen, es sei »eine Art von Doppelgängerscheu«. Denn er habe durch die Lektüre von Schnitzlers Erzählungen und Theaterstücken den Eindruck gewonnen, dass »Sie durch Intuition – eigentlich aber in Folge feiner Selbstwahrnehmung – alles das wissen, was ich in mühseliger Arbeit an anderen Menschen aufgedeckt habe«. Doch auch dieses Bekenntnis änderte nichts. Wie zwei Magnete mit zu ähnlicher Spannung konnten sie sich nicht zu nahe kommen. Aber sie nahmen es beide mit Humor. Als 1913 bei Dr. Schnitzler in die Praxis der blutüberströmte Sohn eines Industriellen eingeliefert wurde, dem ein Pony in den Penis gebissen hatte, da ordnete der Doktor an: »Den Patienten bringen Sie sofort in die Unfallklinik – und das Pony am besten zu Professor Freud.«
◈
Die große Berliner Zigarettenfirma »Problem« wirbt überall in Berlin auf den Bussen und Droschken mit ihrer Zigarettenmarke, die den Namen »Moslem« trägt. So liest man, wenn man über den Potsdamer Platz läuft oder den Kurfürstendamm, in großen
Weitere Kostenlose Bücher