1913
zeitgenössische Kunst aus Deutschland – und Frankreich. Vor allem die jungen Expressionisten, also die gerade nach Berlin übergesiedelten Maler der »Brücke« und die Münchner Gruppe des »Blauen Reiters«, nennt er darin »Tapetenmaler«. Er ist erschüttert von der »ausschließlich auf das Konstruktive und Dekorative zielenden Tendenz vieler Künstler des Tags«. Dies seien eindeutige Zeichen des Niedergangs, schreibt Julius Meier-Graefe (während in München Oswald Spengler angesichts der Auswüchse der Kunst und der Kultur ebenfalls den »Untergang des Abendlandes« gekommen sieht). Die jungen Expressionisten beschäftigten sich nicht mit der Tradition, sie seien ungebildet, klagt Meier-Graefe: »Sie sind Flächenkünstler in jeder Beziehung, flach als Menschen«.
Entsetzen – zu Recht! – bei den Berliner Expressionisten und ihren Propagandisten wie Karl Scheffler. Entsetzen auch darüber, dass diesen Meister der Sprache angesichts der Schrecken, die die Gegenwart für ihn bedeutet, der Geist verlässt. Aber, und das ist dann doch ein Zeichen, wie aufgeheizt die Stimmung im französisch-deutschen Verhältnis 1913 ist, auch in Frankreich gibt es keinesfalls Beifall für »Wohin treiben wir?« Obwohl in seinem Buch ja noch einmal Meier-Graefes Jubelgesänge auf den französischen Impressionismus deutlich bis zur Seine hinüberklingen, wittert die »Nouvelle Revue Française« auf eine sehr verdrehte Weise Gefahr. Sie glaubt, dass sich nun also auch Meier-Graefe langsam zum Nationalisten entwickle, gerade weil er die deutschen Expressionisten so kritisiert. Denn er sei »nur so streng mit der Kultur des Reiches, weil er sie dazu ausersehen hat, unser Erbe anzutreten und den Rest Europas unter ihre Herrschaft zu bringen«. Das sind die Ängste in Paris anno 1913 .
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Der Bundesrat des Deutschen Reiches genehmigt, dass Preußen im Jahr 1913 für 12 Millionen Mark Erinnerungsmünzen prägt. Sie sollen an die Erhebung Preußens gegen die französische Fremdherrschaft im Jahr 1813 erinnern sowie an das 25 -jährige Regierungsjubiläum des deutschen Kaisers Wilhelm II . am 15 . Juni.
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»Ein Krieg zwischen Österreich und Russland«, schrieb Lenin 1913 an Maxim Gorki, »würde der Revolution in Westeuropa sehr nützlich sein. Allerdings kann man sich kaum vorstellen, dass Franz Joseph und Nikolaus uns diesen Gefallen tun werden.«
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Albert Einstein, der große Relativitätstheoretiker, zeigt sich als Praktiker der Realität. 1913 , als Einstein in Prag lebte, entfremdet er sich sich zusehends von seiner Frau Mileva. Er erzählte ihr nichts mehr von seinen Forschungen, seinen Entdeckungen, seinen Sorgen. Und sie schweigt und lässt sich gehen. Es geht ihnen mindestens so schlecht wie Hermann Hesse und seiner Frau in Bern und Arthur Schnitzler und seiner Frau in Wien, um zum Trost nur zwei zu nennen. Abends jedenfalls geht Einstein ganz allein in die Kaffeehäuser oder Kneipen und trinkt ein Bier – vielleicht sitzen nebenan Max Brod, Franz Werfel und Kafka, aber sie kennen sich nicht. Und dann schreibt Albert Einstein in diesem März 1913 – genau wie Kafka – lange Briefe nach Berlin. Er hat sich bei einem Besuch in seine Cousine Elsa verliebt, die gerade frisch geschieden ist. Er schreibt ihr schreckliche Dinge über seine Ehe: Sie schliefen nicht mehr in einem Zimmer, er vermeide es, unter allen Umständen, allein mit Mileva zu sein, denn sie sei eine »unfreundliche, humorlose Kreatur« und er behandle sie wie eine Angestellte, die er leider nicht entlassen könne. Dann steckt er den Brief in einen Umschlag und ab damit zur Post – und so reisten dann vermutlich im selben Postsack von Prag nach Berlin die brieflichen Wehklagen Einsteins und Kafkas an die fernen Sehnsuchtsfrauen Felice und Elsa.
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Die »Welt der Frau«, eine Beilage der »Gartenlaube«, meldet in Nummer 5: »Das Abendkleid dieser Saison zeichnet sich durch luxuriöses Gepräge und phantastische Drapierungen aus, die auch der geschicktesten Schneiderin manch harte Nuss zu knacken geben.« Man kann sich für die schönsten Kleider direkt Schnittmuster bestellen. Interessant sind die möglichen Hüftbreiten: 116 , 112 , 108 , 104 , 100 und 96 . Darunter ist nichts denkbar. Erst in der Nummer 9 hat dann die Redaktion ein Erbarmen und kündigte groß an »Mode für schlanke Damen«! Und es folgt mit großer Anteilnahme der schöne Satz: »Sie haben es nicht immer leicht, die schmächtigen, überschlanken Evastöchter, sich gut
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