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1913

1913

Titel: 1913 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Illies
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wurde, fuhr Meier-Graefe immer von der Baustelle in die Stadt, um Lovis Corinth Porträt zu sitzen, stundenlang, es wird ein besonderes Bild, das zwei der wichtigsten deutschen Figuren des Kunstlebens des Fin de Siècle auf immer vereint.
    Meier-Graefes Haus in Nikolassee atmete französischen Chic, hatte Eleganz und eine gewisse Behäbigkeit, es war perfekt zugeschnitten auf den gerade 50 Jahre alt gewordenen Meier-Graefe und seine Ehefrau (ein paar Jahre später übrigens wurde dann der Architekt Epstein post mortem sein Schwiegervater, weil Meier-Graefe in dritter Ehe dessen Tochter Annemarie heiratete, aber das verwirrt jetzt nur). Hier, im Kirchweg 28 , »draußen auf dem Lande«, wie Meier-Graefe in Briefen an den Maler Edvard Munch sein Haus lokalisierte, entstand 1913 ein zentrales Werk der Kunstgeschichtsschreibung: »Die Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst«, die ab 1914 erscheinen sollte.
    Über Meier-Graefes Schreibtisch hing ein riesiger Delacroix, »Löwin, ein Pferd zerfleischend« – und in der Diele stand Lehmbrucks Torso »Frau, sich umwendend«, die Möbel und die ganze Inneneinrichtung hatte Meier-Graefes Vertrauter Rudolf Alexander Schröder ästhetisch überwacht. Die Villa war ein stark frankophil geprägtes, gut abgehangenes Gesamtkunstwerk, ein Traumschloss. Aber eben keine »Maison moderne« mehr.
    Ohnehin muss jetzt mal Schluss sein mit der »Moderne« in diesem Jahr – das ist ein solch flexibler Begriff, von Zeitgenossen und Nachgeborenen immer anders ausgelegt und von jeder Generation zeitlich wieder neu angesiedelt, dass er eigentlich gar nicht taugt, um die ungeheure ungleichzeitige Gleichzeitigkeit, die das Jahr 1913 vor allem ausmacht, angemessen zu schildern.
    Und das Haus von Julius Meier-Graefe in Berlin war ein solcher Tempel der irritierenden Gleichzeitigkeit: Die Bilder im Speisezimmer stammten von Erich Klossowski, dem malenden Kunsthistoriker und Freund Meier-Graefes vom Montmartre, es war bravster, freundlicher Spätimpressionismus (Balthasar aber, Klossowskis vierjähriger Sohn, der ihm immer gebannt beim Malen der Bilder für Meier-Graefe zusah, wurde dann später unter dem Namen Balthus einer der großen unbraven französischen Maler, so ist das mit den Vätern und den Söhnen). Meier-Graefe war damals schon eine legendäre und heftig umstrittene Figur wegen seines vorbehaltlosen Einsatzes für die Kunst des Erzfeindes Frankreich. Bereits in seiner ersten Auflage der »Entwicklungsgeschichte« hatte er Degas, Cézanne, Manet und Renoir zu den vier Säulen der Moderne ernannt. Und so stand das Schlagwort »Meier-Graefetum« für einen übergroßen Hang zum Französisch-Impressionistischen und für eine kritische Haltung zur deutschen Kunst. Nun, fünfzehn Jahre nach der Niederschrift der ersten Fassung, entstand eine vollkommen neue – denn die Künstler waren, wie er schrieb, reifer geworden und vor allem auch der Autor selbst.
    Doch Achtung. »Reife«, das ist in Geschmacksfragen eine oft heikle Kategorie. Erstaunt und verwundert erlebt man immer wieder, dass die glühendsten Propagandisten der Avantgarde nur Augen für diese eine künstlerische Revolution haben. Kommt dann die nächste Generation, die sich anschickt, die letzte Avantgarde alt aussehen zu lassen, dann kommen die Kennerschaft, die Urteilskraft, das unbestechliche »Auge« oft nicht mehr mit. So auch hier. Dieser Meier-Graefe, der im Alleingang den Deutschen die Augen geöffnet hatte für Delacroix und Corot und Cézanne und Manet und Degas und und und, dieser Meier-Graefe also sitzt im Jahre 1913 in seinem Landhaus in Berlin-Nikolassee und schreibt ungerührt den Satz: »Bei dem Namen Picasso wird der Historiker der Zukunft stillhalten und feststellen: Hier hörte es auf.« Ende. Unvorstellbar, dass es nach der Formenzertrümmerung des Kubismus noch einmal weitergehen könnte. Der große Autor, der vielleicht feurigste kunstkritische Stilist des Jahrhunderts, der ein Meister des Erzählens der »Entwicklung« der Kunst war, der sieht sie, ganz nüchtern, jetzt an ihr Ende gekommen. Dort, wo wir heute ihren Anfang sehen.
    Es passt dazu, dass er in der »Neuen Rundschau« seinen Aufsatz »Wohin treiben wir?« veröffentlicht – der für großes Aufsehen sorgt und für Verstörung. Der große Mittler zwischen den Nationen, der Kunst und Kunsthandwerk der Franzosen für fast dreißig Jahre ins ästhetische Bewusstsein des Reiches transformierte, steigert sich in einen Wutausbruch über die

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