1913
Schwärmen, das naturgemäß in Ernüchterung endet. Adele heißt seine Frau im Roman – sie ist so resigniert und verbittert wie Maria, Hesses Frau. Sehr offen thematisiert er nicht nur das Scheitern seiner Ehe – sondern ganz grundsätzlich die Unmöglichkeit, als Künstler in Ehe und Gesellschaft bei sich bleiben zu können. Der 23 Jahre junge Jurastudent Kurt Tucholsky, der seit Januar 1913 für die »Schaubühne« arbeitet, die dann zur »Weltbühne« wird, schreibt über »Roßhalde« Sätze von großer Hellsichtigkeit: »Wenn nicht vorn auf dem Titelblatt der Name Hesse stünde, so wüssten wir nicht, dass er es geschrieben hat. Das ist nicht unser lieber, guter, alter Hesse: das ist jemand anders.« Vor allem aber hat Tucholsky auf den ersten Blick die schwachen Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit durchschaut: »Hesse ist wie dieser Veraguth; er hat die heimatlichen Zelte abgebrochen und geht – wohin?« Gute Frage.
◈
Natürlich klappt auch 1913 nicht alles. Es hat Vorbereitungen für eine Ausstellungstournee gegeben, Auftakt in Frankfurt, die die Kunst der Berliner Expressionisten und der Secessionisten mit der des Blauen Reiters vereint hätte. Doch zu ihrer Überraschung erhalten die Blauen Reiter in Oberbayern aus Berlin ihre Bilder zurückgeschickt. Verärgert schreibt Franz Marc aus Sindelsdorf am 28 . Februar mit dem Signet des Blauen Reiters auf dem Briefkopf an Georg Tappert, den Vorsitzenden der Neuen Secession in Berlin: »Beim Auspacken meiner Bilderkiste fand ich zu meinem größten Verdruss auch die ›Hirsche‹ beigepackt, die doch nach meiner ausdrücklichen Bestimmung auf die Tournee (zunächst April in Frankfurt) mitgehen sollten. Nun schreibt mir heute Kandinsky, dass zu seinem unverhohlenen Erstaunen ihm seine 4 Berliner Bilder nach München geschickt worden sind. Wie sollen wir uns nun dazu stellen? Die Logik scheint, dass aus der Tournee nichts geworden ist. Aber wie ist es möglich, dass Sie, ohne uns zu fragen, uns die Bilder einfach auf den Hals schicken?« Doch es ist noch nicht aller Tage Abend. Im Herbst wird das einzigartige Gipfeltreffen der beiden Pole des deutschen Expressionismus dann doch noch gelingen.
◈
Rainer Maria Rilke wird es schon Anfang Februar zu heiß. Er war in den Süden geflohen, um die Sonne zu sehen. Doch nun, im weißen Sommeranzug im Gartenstuhl des Hotel Reina Victoria in Ronda liegend, sehnt er sich nach dem kühlen Norden. Er wäre sonst auch nicht Rilke. Er ist ein so großer Frauenversteher, Naturnachempfinder und Hineinfühler, dass er selbst Mitleid hat, wenn im Spätsommer die Städte »vom unnachgiebigen Sommer recht mitgenommen sind«. Und wahrscheinlich spürt deshalb auch nur jemand wie Rilke bei den ersten warmen Sonnenstrahlen des Jahres schon ihre künftige, sengende Vernichtungskraft. So klagt er also Anfang Februar in den Briefen an die Mama und die fernen Seelenfreundinnen, der Frühling bekomme ihm nicht: »Die Sonne war zu heftig, am Morgen um 7 Uhr war sichtlich Februar, vier Stunden später, gegen 11 , hätte man sich rein im August glauben können.« Sie werde doch sicher verstehen, so schreibt er an Sidonie Nádherný, dass es »unerträglich« sei, wenn die Sonne so steche. Am 19 . Februar reist er fluchtartig ab. Ende des Monats bezieht er in Paris seine neue Wohnung in der Rue Champagne-Première. Nach anderthalb Jahren auf der Flucht vor sich selbst durch halb Europa landet er in der vorfrühlingshaft flirrenden Metropole. Er hat Angst davor, anzukommen. Aber er will es noch einmal versuchen, hier, in diesem Paris, an diesem Ort. Aber er weiß gar nicht mehr, wie das geht. Sitzen, arbeiten, ruhig bleiben. Leben.
◈
Im Frühjahr 1913 gelingen Charles Fabry die entscheidenden Experimente zur Entdeckung der Ozonschicht. Sie ist noch vollkommen intakt.
◈
Nach nur einem Tag Zugfahrt ist man schon in Galizien, österreichischem Kronland, deshalb wird Wien in diesen Jahren zum beliebtesten politischen Exil für flüchtige Revolutionäre aus Russland. In der Döblinger Rodlergasse etwa arbeitet in ärmlich-kleinbürgerlicher Atmosphäre mit Frau Natalia und Kindern der Schriftsteller und Journalist Leo Bronstein, besser bekannt als Leo Trotzki. Weihnachten leisteten sich die Trotzkis einen Christbaum, um so zu tun, als gehörten sie dazu und als wollten sie nie wieder weg. Trotzki verdient wenig Geld mit seinen journalistischen Arbeiten für diverse liberale und sozialdemokratische Blätter, oft sitzt er ganze
Weitere Kostenlose Bücher