1913
Nachbarzimmer und singt herzzerreißend Isoldes Liebestod. Und stürzt sich mit opernhafter Absolutheit in diese Affäre. Kokoschka kann nichts anderes mehr malen als Alma. Nackt meist, aufgelöstes Haar, geöffnete Bluse, er malt wild und ungestüm, so wie er auch liebt. Er wirft aus Ungeduld den Pinsel weg, weil es ihm zu lange dauert, und malt mit den Fingern, nutzt den linken Handteller als Palette und kratzt dann mit den Fingernägeln Linien hinein in die Farbwulste. Das Leben, die Liebe, die Kunst: alles ein großer Kampf.
Wenn Kokoschka nicht Alma malt, dann malt er Alma und sich, etwa das »Doppelbildnis Oskar Kokoschka und Alma«. Er nennt es: »Das Verlobungsbild«. Weil er sie heiraten will und hofft, sie so für immer einzufangen. Aber Alma ist eine Schlange. Heiraten, so erklärt sie ihm, könne sie ihn erst, wenn er ein absolutes Meisterwerk geschaffen habe. Kokoschka hofft, dass dieses Verlobungsbild sein Meisterstück wird – Ende Februar ist er fast fertig und Alma ruhelos. Er fleht sie an: »Bitte schreibe mir recht viel Liebes, damit ich nicht mehr einen Rückfall habe und keine Zeit vor dem Bild verliere.« Doch Alma hat gerade das gemeinsame Kind abgetrieben und ärgert sich über den Schwangerschaftsbauch, den Kokoschka ihr gemalt hat. Seltsam verschränkt stehen sie beide auf dem Gemälde – Kokoschka schaut leidend, Alma gefasst. Sie fährt mit ihrer Mutter auf den Semmering und sucht ein Baugrundstück aus auf den Ländereien, die Gustav Mahler einst für sie beide gekauft hatte. Nun plant sie ein Liebesnest für den nächsten. Und als das »Verlobungsbild« fertig ist, schickt es Kokoschka nach Berlin zur Secession. Es ist natürlich das, was er sich erhofft hat: eine öffentliche Verlobungsanzeige. Als Walter Gropius, der große Architekt, dessen Fagus-Werke gerade gebaut werden und der sich Hoffnungen macht, Alma zu heiraten, das Bild in Berlin sieht, bricht er wie gewünscht zusammen. (Aber, unter uns, er ist es am Ende, der Alma heiraten wird, nicht Kokoschka).
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Albert Schweitzer sitzt in Straßburg an seiner dritten Doktorarbeit. Er ist längst ein Dr. phil. dank seiner philosophische Dissertation »Die Religionsphilosophie Kants. Von der Kritik der reinen Vernunft bis zur Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«. Und ein Doktor der Theologie ist er auch schon: »Kritische Darstellung unterschiedlicher neuerer historischer Abendmahlsauffassungen«. Er war dann Dozent für Theologie in Straßburg geworden und sogar Vikar an der Kirche St. Nikolai, als er sich entschied, auch Doktor der Medizin zu werden. 1912 erhielt er die Approbation als Arzt. Der Arzt und Vikar und Dozent und Dr. phil und Lic.theol. aber lässt nicht locker. Seine Doktorarbeit »Die psychiatrische Beurteilung Jesu« muss fertig werden. Die Sekundärliteratur erschlägt ihn, die Dreifachbelastung sorgt für bleierne Müdigkeit. Damit er nicht einschläft beim Lesen, hat er sich angewöhnt, einen Eimer mit kaltem Wasser unter seinen Schreibtisch zu stellen. Wenn er den Ausführungen in den Büchern nicht mehr wirklich folgen kann, zieht er seine Socken aus, stellt seine Füße ins kalte Wasser, und liest dann weiter. Er ist jetzt fast fertig. Und er hat schon sein nächstes großes Ziel vor Augen: Afrika.
MÄRZ
Im März fährt Kafka tatsächlich zu Felice Bauer nach Berlin, sie versuchen, zusammen spazieren zu gehen, doch es klappt nicht. Robert Musil konsultiert einen Nervenarzt, darf aber wieder gehen, Camille Claudel kommt in die Nervenklinik und muss dreißig Jahre bleiben. Und in Wien findet am 31 . März das große »Watschenkonzert« statt: Arnold Schönberg wird öffentlich geohrfeigt, weil er zu schrille Töne angeschlagen hat. Albert Schweitzer und Ernst Jünger träumen von Afrika. In Cambridge beginnt Ludwig Wittgenstein mit seinem Outing und mit seiner neuen Logik, Virginia Woolf hat ihr erstes Buch fertig und Rainer Maria Rilke hat: Schnupfen. Allgemein die große Frage: »Wohin treiben wir?«
In Berlin-Nikolassee, vor den Toren der Stadt, am Rande der verwunschenen Rehwiese, werden im Kirchweg 27 und 28 fast gleichzeitig zwei besondere Villen fertig: Hermann Muthesius’ »Haus Stern« für den Bankpräsidenten Julius Stern und direkt daneben, erbaut von dem Architekten Walter Epstein, die Villa für den vielleicht wichtigsten deutschen Kunstschriftsteller Julius Meier-Graefe, der durch Erbe, Bucherfolge und Kunsthandel zu einem gewissen Vermögen gekommen war. Als es gebaut
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