1913
wenigstens Mahler in Ruhe an!‹ Als wäre es gegen den gegangen! Unverschämtheit – – Einer im Parkett ›Lausbub‹. Der Herr vom Podium ins Parquet, unter athemloser Stille; haut ihm eine herunter. Rauferei allerorten.« Das Leben geht weiter. Schnitzler macht einen Absatz und dann: »Mit Vicki, Fritz Zuckerkandl und dessen Mutter im ›Imperial‹ soupiert.«
Arnold Schönberg reist am nächsten Tag zurück nach Berlin, endgültig in seinem Glauben bestätigt, dass 1913 ein Unglücksjahr ist und die Wiener unfassbare Banausen sind. Er empfängt, kaum nach Berlin zurückgekehrt, den Reporter der »Zeit« und erklärt ihm auf herrlich kleinliche und rechthaberische Weise:
»Eine Konzertkarte gibt nur das Recht, das Konzert anzuhören, nicht aber, die Vorträge zu stören. Der Käufer einer Karte ist ein Eingeladener, der das Recht, zuzuhören, erwirbt: sonst nichts. Es ist ein großer Unterschied zwischen einer Einladung in einen Salon und der in ein Konzert. Der Beitrag zu den Kosten einer Veranstaltung kann unmöglich ein Recht verleihen, sich unanständig zu benehmen.« Herr Schönberg schließt seine Unterredung mit folgenden Worten für sein zukünftiges Verhalten: »Ich habe mir vorgenommen, bei derartigen Konzerten nur dann noch mitzuwirken, wenn auf den Eintrittskarten ausdrücklich vermerkt ist, dass die Störung der Vorträge nicht gestattet ist. Es ist doch selbstverständlich, dass der Veranstalter eines Konzertes nicht nur moralisch, sondern auch materiell der Inhaber eines Rechtsgutes ist, das in einem jeden auf Privateigentum bestehenden Staatswesen Anspruch auf Schutz hat.« Dieses Interview ist ein verstörendes Dokument. Die Verfechter der neuen Musik wollen einen Rechtsanspruch auf ungestörte Avantgarde. Doch das war dann selbst für dieses ungeheure Jahr 1913 zu viel des Guten.
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Camille Claudel hatte am Ende des neunzehnten Jahrhunderts den großen Auguste Rodin überwältigt und Skulpturen von einzigartiger Schönheit geschaffen. Sie hatte Rodin einen Vertrag diktiert, in dem sie ihm verbot, andere Modelle als sie selbst zu haben, und ihn verpflichtet, ihr Aufträge zu verschaffen und ihr eine Italienreise zu spendieren – dann dürfe er sie viermal im Monat im Atelier besuchen. Er war ihr hörig. Doch dann verließ sie ihn 1893 .
Von diesem Moment an ging es für sie steil bergab. 1913 , zwanzig Jahre später, denkt sie noch immer an nichts anderes als an ihn. Sie ist dick und aufgedunsen inzwischen, ungewaschene, verlotterte Haare, wirrer Blick. Nichts erinnert mehr an die junge Bildhauerin, der erst Rodin und dann Claude Debussy verfielen. Sie haust in einer vollgestopften Erdgeschosswohnung am Quai Bourbon 19 , zerstört im Wahn mit gezielten Hammerschlägen alle Werke, die sie zuvor geschaffen hat, fühlt sich verfolgt von ihrer Familie und von Rodin und vom Rest der Welt. Sie ist davon überzeugt, dass Rodin, den sie das letzte Mal vor sechzehn Jahren gesehen hat, schamlos ihre eigenen Werke plagiiere.
Da sie fest davon ausgeht, dass alle sie vergiften wollen, isst sie nur noch Kartoffeln und trinkt abgekochtes Wasser, die Fensterläden bleiben geschlossen, damit niemand sie ausspionieren kann. Ihr Bruder Paul Claudel besucht sie und notiert danach lapidar in sein Tagebuch: »In Paris. Camille verrückt, die Tapeten in langen Streifen von den Wänden gerissen, ein einziger und kaputter Sessel, furchtbarer Schmutz. Sie selbst ist fett und schmutzig und redet ununterbrochen mit monotoner und metallischer Stimme.«
Am 5 . März erstellt Dr. Michaux ein ärztliches Attest, das den Bruder Paul Claudel ermächtigt, seine Schwester in eine geschlossene Anstalt einzuweisen. Am Montag, dem 10 . März, öffnen zwei kräftige Krankenwärter gewaltsam die mit mehreren Schlössern gesicherte Tür zu Camille Claudels Atelier und tragen die schreiende Frau hinaus. Sie ist 48 Jahre alt. Am selben Tag wird sie in die Nervenklinik Ville-Évrard gebracht, wo der zuständige Arzt Dr. Truelle die Diagnose einer schweren Paranoia voll bestätigt. Jeden Tag redet sie von Rodin. Jeden Tag hat sie Angst, dass er sie vergiften wolle und dass die Krankenschwestern seine Komplizinnen seien. So wird es noch dreißig Jahre weitergehen. Es gibt noch keine Doktorarbeit über »Die psychiatrische Beurteilung Camille Claudels«.
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Albert Schweitzer wird im März 1913 zum Dr. med. promoviert. Seine Arbeit »Die psychiatrische Beurteilung Jesu« irritierte, aber gefiel. Am nächsten Tag verkauft er
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