1913
Praxistest.
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Oskar Kokoschka in seinem herrlichen Liebeswahn ist natürlich nicht so klug. Mit Brachialgewalt will er Alma, seine fleischgewordene Utopie des Weibes, in den Praxistext zwingen, der in seinem Fall »Ehe« heißt. Alma ist da vernünftiger. Sie glaubt nicht daran. Will aber auch, dass Kokoschka nicht die ganze Energie verschleudert, die aus diesem Antrieb zu erwachsen schien. Also spricht sie zu ihm: Ich heirate dich, wenn Du ein wirkliches Meisterwerk schaffst. Von diesem Tage an hatte ihr Geliebter kein anderes Ziel mehr vor Augen. Er kauft eine Leinwand, die er genau in den Maßen ihres gemeinsamen Bettes zuschneidet, 180 x 220 Zentimeter, um daraus sein Chef d’Œuvre zu machen.
Er erhitzt den Leim, mischt die Farben, Alma muss ihm Porträt stehen, nein: Porträt liegen. Denn das Bild soll sie so zeigen, wie er sie am liebsten mag. Nackt und in der Horizontalen. Alma Mahler – oder die Lage der Frau um 1913 . Sich selbst will er daneben malen, aber er weiß noch nicht wie. Er schreibt ihr: »Das Bild geht langsam, aber immer besser, der Vollendung zu. Wir beide mit sehr starkem ruhigen Ausdruck, die Hände ineinandergelegt, am Rand in einem Halbkreis, bengalisch beleuchtetes Meer, Wasserturm, Berge, Blitz und Mond.« Es muss Oskar Kokoschkas »Meisterwerk« werden. Und das völlig Unerwartete geschieht: Es wird Kokoschkas Meisterwerk. Doch wird ihn Alma deswegen heiraten?
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Walter Gropius veröffentlicht 1913 seinen Aufsatz »Entwicklung moderner Industriebaukunst« im Jahrbuch des deutschen Werkbundes. Darin sind vierzehn Fotografien von Lagerhäusern und Getreidesilos aus Amerika, die Gropius für den Inbegriff einer neuen Bausprache hält: form follows function. Gebaut von Ingenieuren nach rein funktionalen Grundsätzen, schlichte Kuben, kein Ornament, kein Firlefanz. Hier sei die Architektur wieder »rein«, sagt Gropius. Beziehungsweise: »Im Mutterland der Industrie, in Amerika, sind industrielle Großbauten entstanden, deren unbekannte Majestät auch unsere besten deutschen Bauten dieser Gattung überragt. Sie tragen ein architektonisches Gesicht von solcher Bestimmtheit, dass dem Beschauer mit überzeugender Wucht der Sinn des Gebäudes eindeutig begreiflich wird.«
MAI
Eine warme Frühlingsnacht in Wien: Arthur Schnitzler streitet sich so sehr mit seiner Frau, dass er am 25 . Mai davon träumt, sich zu erschießen. Es wird nichts draus. In derselben Nacht in Wien erschießt sich aber Oberst Redl, weil er der Spionage überführt worden ist. In derselben Nacht in Wien packt Adolf Hitler seine Sachen und besteigt den ersten Zug nach München. Die Künstlergruppe »Die Brücke« löst sich auf. In Paris feiert Strawinsky mit »Le sacre du printemps« Premiere – er sieht das erste Mal seine spätere Geliebte Coco Chanel. Brecht langweilt sich in der Schule und hat Herzklopfen. Drum fängt er an zu dichten. Alma Mahler flieht das erste Mal vor Oskar Kokoschka. Rilke streitet sich mit Rodin und kommt nicht zum Schreiben.
Es ist soweit: Max Weber erfindet das große Wort von »der Entzauberung der Welt«. In einem Essay über Grundbegriffe der Soziologie schreibt er darüber, was für die kapitalistische Struktur der Gesellschaft wichtig sei – und dazu gehört die zunehmende Technisierung und Verwissenschaftlichung, ja Rationalisierung dessen, was vormals als Wunder galt. »Entzauberung der Welt« meint, in Webers eigenen Worten, dass die Menschheit glaubt, alles durch Berechnung beherrschen zu können. Immerhin, Webers eigener Körper stemmte sich gegen die Berechnungen der Diättabellen. Der 49 -Jährige war im Frühjahr 1913 nach Ascona gereist, ohne seine Ehefrau Marianne, um sich von seiner Medikamentensucht und seinem Alkoholismus zu kurieren. So will er, entzaubert, wieder seine äußere »Schönheit« herstellen. Doch keine Chance. Er fastet zwar in Ascona und hält Diät mit »Vegetarierfraß«, wie er an das »liebe Schnauzerl«, seine Frau, schreibt. Aber es hilft alles nicht: »Die Polsterung und das Mastbürgertum weichen nicht. Der Schöpfungsplan will mich so.« Er bleibt also dick, weil das so vorherberechnet wurde. Es ist also auch bei ihm bereits deutlich mehr Plan als Schöpfung. So wird vielleicht das eigene Gewichtsproblem zur Grundlage für eines der wichtigsten Schlagworte des 20 . Jahrhunderts.
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Der Monat beginnt hart für Oskar Kokoschka. Er schreibt am 1 . Mai an Alma Mahler: »Der heutige Tag war nicht leicht für mich, da ich keinen Brief
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