1913
Holzweg waren. Der Königsweg, so die schrillbunten Futuristen, lag stattdessen in einer hemmungslosen Feier des Futur.
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Kleines Gipfeltreffen in der Ainmillerstraße. Paul Klee besucht Gabriele Münter und Wassily Kandinsky, die in der Ainmillerstraße 36 gemeinsam versuchen, die Malerei voranzubringen. Auf dem Höhepunkt ihrer Liebe, 1906 , reisten Münter und Kandinsky durch Italien und Frankreich und malten flirrende Ölstudien vom Meer, die sich so ähnlich sind, dass man bis heute nicht weiß, wer von beiden sie gemalt hat. Jetzt, sieben Jahre später, sind die Hände geschieden, die Stile auch und die Betten fast. Kandinsky entschwebt in die Richtung seiner farbig glühenden Abstraktion, Gabriele Münter bleibt bei ihrer erdschweren Malerei, mit den schwarzen Linien, die die Farben umranden wie das Blei in alten Kirchenfenstern. So malt sie auch Paul Klee, als er das Künstlerpaar besucht. Ein zackiges Profil, steifer Kragen, gerader Schnurrbart, im Hintergrund sieht man lauter Kandinskys und Münters an den Wänden hängen. Und Klee hat auf dem Porträt Pantoffeln an, so zu Hause fühlt er sich. Es liegt noch Schnee in diesem April in München und so wird Klee wohl nasse Füße bekommen haben bei seinem Gang zu den Freunden. Wohlig warm steckt er seine Füße in die warmen Puschen der Hausherrin. Vielleicht ist es diese kleine freundliche Geste, die ihn heute endlich nachgeben lässt, als Gabriele Münter ihn schon wieder fragt, ob sie ihn denn endlich einmal porträtieren dürfe. Die Schuhe müssen ohnehin noch eine Stunde trocknen, mag er sich gedacht und sich stoisch in sein Schicksal gefügt haben. So schaut er aus auf diesem Bild, das uns bis heute diesen intimen Moment aus dem Innenleben des Blauen Reiters überliefert hat.
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Österreich-Ungarn ohne Chance gegen das französische Angriffsspiel: Am 14 . April besiegt der Franzose Max Decugis im Endspiel des Tennisturniers von Madrid den Österreicher Graf Ludwig Salm in drei Sätzen mit 6 : 4 , 6 : 3 , 6 : 2 .
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Wie kommt man von Amerika am schnellsten nach Europa? In der »Telefunken Zeitschrift« Nr. 11 vom April 1913 wird berichtet über den »ersten funkentelegraphischen Erfolg zwischen Deutschland und Amerika«. Darin heißt es: »Die Versuche sind insofern erfolgreich gewesen, als es zum erstenmal seit Bestehen der Funkentelegraphie gelang, funkentelegraphische Mitteilungen auf der Linie New York–Berlin über den Ozean zu senden. Die hierbei überbrückte Distanz beträgt ca. 6500 Kilometer.«
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Im April erscheint bei S. Fischer der große Bestseller des Jahres 1913 : »Der Tunnel« von Bernhard Kellermann aus Fürth. Nach vier Wochen sind 10 000 Exemplare verkauft, nach sechs Monaten schon 100 000 . (Zum Vergleich: Thomas Manns »Tod in Venedig«, im Februar 1913 erschienen, verkauft 1913 knapp 18 000 Exemplare, und es dauert bis in die dreißiger Jahre, bis davon 100 000 Exemplare gedruckt sind.)
»Der Tunnel« erzählt die Geschichte des Baus eines Tunnels von New York nach Europa; tief unter dem Atlantik graben sich die Menschenmassen aufeinander zu. Was für ein irres Buch: Science-Fiction gemischt mit Realismus, Sozialkritik mit Ingenieursromantik, kapitalistischer Fortschrittsglaube mit ermüdeter Apokalyptik. Unter der Erde brechen die Tunnels ein, kommt es zu Streiks, zu Wut und Elend, über der Erde zu Börsenplänen, Eheträumen, Ernüchterungen. Dann, nach 24 Jahren, reichen sich die Bauarbeiter aus Europa und Amerika Tausende von Metern unter dem Atlantik die Hand. Es ist geschafft. Zwei Jahre später fährt zwischen den Kontinenten der erste Zug unter der Erde. 24 Stunden braucht der Zug, doch niemand will mit ihm fahren. Denn die Entwicklung ist vorangestürmt, »Der Tunnel«, der einmal technische Utopie war, ist nun rührende Vergangenheit – längst fliegt man von Amerika nach Europa mit dem Flugzeug, und das in der Hälfte der Zeit.
So gelingt Kellermann ein großes Werk – er versteht die Fortschrittsliebe seiner Zeit, ihren Glauben an das technisch Machbare, und zugleich lässt er sie mit feiner Ironie und tatsächlichem Sinn für das Mögliche ins Leere laufen. Ein riesiges utopisches Projekt, das tatsächlich verwirklicht wird – und dann schon Geschichte ist, über das die Menschen Scherze machen, die nicht viele tausend Meter unter, sondern über dem Atlantik bei der Stewardess einen Tomatensaft bestellen. Schützen wir, so Kellermanns weise Botschaft, die Utopien vor ihrem
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