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1913

1913

Titel: 1913 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Illies
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dem ernsten, strengen Geliebten von einst, der sich enttäuscht zurückgezogen hat, seit er in der Ausstellung der »Secession« das Doppelbildnis von Alma und Kokoschka sah. Ihm also schreibt Alma am 26 . Juli: »Ich werde vielleicht heiraten – Oskar Kokoschka, ein unseren Seelen vertrauter, mit Dir aber bleibe ich durch alle Ewigkeiten verbunden. Schreib mir, ob Du lebst und ob dieses Leben des Lebens wert ist.«
    Kokoschka ahnt noch nicht, dass Alma längst die Angel neu ausgeworfen hat. Er malt in Wien noch um sein Leben. Fragt sich aber auch, ob dieses Leben des Lebens wert ist. Er sitzt am gemeinsamen Porträt vor der riesigen Leinwand. Er sitzt an seinem Meisterwerk. Vielleicht hält ihn von seiner Verzweiflung nur sein Besucher in diesem Wiener Juli ab. Denn gemessen an Georg Trakl geht es der Seele von Kokoschka noch verhältnismäßig gut. Trakl wohnt vorübergehend in Wien, in der Stiftsgasse 27 , er hat, zwischen seinen Alkohol- und Drogenräuschen, eine unbesoldete Stelle in Wien angenommen, ausgerechnet als Verrechnungsbeamter im Kriegsministerium. Man kann sich keinen absurderen Beruf für Georg Trakl ausmalen. Er hält es auch nur ein paar Tage aus. In dieser Zeit aber stiehlt er sich, kaum ist Feierabend, in das Atelier Kokoschkas. Der steht vor der Leinwand, unruhig wippend, in wilden inneren Träumen über Almas Untreue versunken, die Zigarette im Mund und die Farbe im Handteller, malend mit Pinsel und rechtem Zeigefinger. Hinter ihm sitzt Trakl auf einem Bierfass und rollt darauf stundenlang vor und zurück, vor und zurück. Jeden anderen würde das wahnsinnig machen. Kokoschka, dieser Wahnsinnige, findet das beruhigend. Dann und wann ist ein dumpfes Brummen aus Trakls Ecke zu hören, er beginnt seine Gedichte zu rezitieren, spricht von Krähen, Verhängnis, Fäulnis und Untergang, verzweifelt schreit er nach seiner Schwester, dann versinkt er wieder in ein ewiges Schweigen und rollt stumm vor und zurück, vor und zurück. Trakl ist täglich da, als Kokoschka das Doppelbildnis malt. Und Trakl ist es auch, der dem Bild den Namen gibt: »Die Windsbraut«. In einem Gedicht Trakls, das in diesen wirren Wiener Tagen entsteht, »Die Nacht«, heißt es: »Golden lodern die Feuer / Der Völker rings. / Über schwärzliche Klippen / Stürzt todestrunken / Die erglühende Windsbraut.« So erglüht die Windsbraut Alma im Atelier und auf der Staffelei, doch im wahren Leben beginnt sie abzukühlen. Oder vielleicht ist es sogar andersherum: Gerade weil Kokoschka mit seinem überspannten Nervenkostüm spürte, dass ihm Alma zu entgleiten droht, auf Abstand geht, gerade weil ihre symbiotische Liebe eine Trübung erfahren hat, ist er überhaupt in der Lage, ein Bildnis von ihnen beiden zu malen, das Kunst wird und kein Liebesbeweis. Erst als Alma den Titel »Windsbraut« trug, erst als er der Braut das Fliehende, das Flüchtige des Windes eingeschrieben hat, kann er sich überhaupt ein Bildnis von ihr machen. Eine »Windsbraut« kann man nicht heiraten. Nur malen.
    ◈
    Max Liebermann malt ein Porträt von Peter Behrens. Das große gestalterische Genie seiner Zeit sieht darauf aus wie ein wohlbeleibter, gemütlicher Advokat.

AUGUST
    Ist das der Sommer des Jahrhunderts? Es ist auf jeden Fall der Monat, in dem Sigmund Freud einen Ohnmachtsanfall erleidet und Ernst Ludwig Kirchner glücklich ist. Kaiser Franz Joseph geht auf die Jagd, und Ernst Jünger sitzt stundenlang mit Wintermantel im heißen Gewächshaus. Musils »Mann ohne Eigenschaften« beginnt mit einer Falschinformation. Georg Trakl versucht, Urlaub in Venedig zu machen. Schnitzler auch. Rainer Maria Rilke ist in Heiligendamm und hat Damenbesuch. Picasso und Matisse gehen zusammen reiten. Franz Marc bekommt ein zahmes Reh geschenkt. Niemand arbeitet.

    In Heiligendamm auf der Hotelterrasse streift in diesen Tagen Rainer Maria Rilke langsam die dunkelgrauen Handschuhe ab und ergreift schlaff die Hand von Helene von Nostitz, die neben ihm einen Mokka trinkt. Sie schaut in seine Augen, seine milden, tiefblauen Augen, deren Tiefe die Damen immer den Rest seines Gesichtes vergessen ließen. Rilke war in Göttingen bei Lou Andreas-Salomé gewesen, als ihn ein Brief von Helene erreichte, die ihn zu kommen bat. Zur Überraschung aller Beteiligten, die durch ein enges, unüberschaubares Geflecht von Zuneigung und Eifersucht verbunden waren, sagte Rilke zu. Er habe, so schreibt er aus Göttingen, als sich Lou einmal hingelegt hat, erschöpft vom

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