1913
gemeinsamen Schweigen, Reden, Streiten, Schmachten, Lesen, Schweigen, »heftiges Bedürfnis nach Seewind«. Doch als Rilke ankommt in Heiligendamm, gerät er in das bunte Treiben der Pferderennen, die Rennbahn auf dem kleinen Hügel zwischen Heiligendamm und Bad Doberan lädt zum großen, traditionellen Galoppderby. Das Hotel in Heiligendamm ist überfüllt mit mondänem städtischen Publikum und dicken Gestütsbesitzern, denen beim Aufstehen der Bauch fast das Wams sprengt. Überall Pferdewagen, Frauen mit riesigen Hüten, geschäftiges Treiben, Gespräche über Wetteinsätze, Beppo sei heute der große Favorit, so hört er. Rilke bittet verstört an der Rezeption um Briefpapier.
Er gedenke, so schreibt er hastig an Helene von Nostitz, in spätestens einer halben Stunde wieder abzureisen. Als ihr der Boy im Zimmer den Brief überreicht, streitet sie gerade mit ihrem Mann darüber, warum sie diesen Dichter eingeladen habe. Sie liest Rilkes Lamento, kleidet sich schnell an und eilt zu ihm, findet ihn im Kurhaus in seinem weißen Sommeranzug, aber vor allem: »grau und ausgelöscht«. Draußen toben die Wolken und türmen sich auf zu gewaltigen schwarzen Gebirgen. Ein mächtiger Wind kommt auf und bläst herüber vom Meer, die Damen halten ihre Hüte fest, aus den hohen Buchen fegt es die ersten welken Blätter in die Luft.
Helene von Nostitz hakt sich bei Rilke unter und führt ihn mit energischem Schritt hinaus aus dem Kurhaus, den kleinen Pfad an den neu gebauten Cottages vorbei, sie grüßt rechts und grüßt links, alle gehen etwas gebeugt gegen den stürmischen Wind, dann haben Helene und Rainer den Buchenwald erreicht. Sie gehen weiter, es wird immer stiller, der Wind legt sich. Hinten über Brunshaupten schiebt sich die Sonne unter den Wolken hervor und taucht die Küste in ein gleißendes Licht. Mächtig erheben sich hier die Buchen in den Ostseehimmel, der salzige Wind hat ihre Stämme ganz glatt gerieben und ihre Kronen in die Höhe geschraubt. Sie sehen, obwohl viele Jahrzehnte alt, noch immer so unschuldig aus. Wie machen sie das bloß? Es ist Rilke, als wandele er zwischen riesigen Stelzen umher. Bäume, die den Blick in die Höhe reißen, weg von den irdischen Vermoosungen und Baumstrünken. Er lehnt sich an einen Stamm, atmet durch. Helene von Nostitz schaut ihn aufmunternd an, doch er sieht nur das blaue Meer, das zwischen den Buchenstämmen leuchtet, dann und wann eine winzige Schaumkrone, sonst nur blau, blau, blau.
Später, als er wieder nüchtern ist, setzt er sich hin und schreibt an Lou Andreas-Salomé: »Dieses hier ist das älteste Seebad Deutschlands, sympathisch durch seinen Wald am Meer, durch seine fast ganz auf den Landadel der Umgebung eingeschränkte Klientel.« Der Brief ist überraschend kühl angesichts der neu aufgeflammten Beziehung zwischen Rilke und Lou, die gerade in Göttingen im Garten die Hände ineinander gelegt haben, wie zur Erneuerung ihres alten Bundes. Dann trennten sie sich – Lou beschloss, in Göttingen eine psychoanalytische Praxis zu eröffnen. Rilke beschloss, zu versuchen, Urlaub zu machen. Aber wie immer scheint er sich unter dem großen Druck zu fühlen, ein wenig leidend zu sein, als dürfe Lou nie das Gefühl haben, dass er glücklich sein könne, wenn er nicht bei ihr ist. Das ist das Fundament all seiner abertausend Briefe an seine fernen Gönnerinnen und Verehrerinnen. So also schreibt er im Stile eines Baedeker noch ein paar Zeilen über Heiligendamm anno 1913 : »Der Großherzog hat hier seine Villa, außerdem nur ein Kurhaus mit schöner Säulenhalle, ein Hotel und etwa ein Dutzend Villen, alles noch ziemlich unverdorben im guten Geschmack des beginnenden neunzehnten Jahrhunderts. Die Leute von ihren Gütern kommen mit den vorzüglichsten Gespannen herübergefahren, das gibt wundervolle, bewegte Reliefs vor dem Meer. Dabei in den Wäldern und sogar am Strand viel Stille, alles in allem ein« – nun denkt der Leser, dass Rilke am Ende doch noch ein begeistertes oder wenigstens positives Adjektiv durchrutscht, aber es gelingt ihm, diesem Risikovorstand des Glücks, gerade noch die Kurve zu kriegen, und er schreibt also: »alles in allem ein brauchbarer kleiner Ort«.
Wie schade, dass er sich auch hier nicht gehen lassen kann. Für Rilke, diesen das zarte Unglück so leidenschaftlich Liebenden, diesen Hohepriester der Unaussprechlichkeit, wäre wahrscheinlich auch das Paradies nur ein »brauchbarer Ort«. Aber er kann nicht leugnen, dass es ihm
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