1913
anderen die Technik, denn er perfektionierte in gemeinsamen Experimenten mit dem großen amerikanischen Fotografen Alfred Stieglitz die Autochromie, wodurch er schon in diesen Jahren immer wieder exzellente Farbfotografien von den Almen und Matten Tirols machen konnte. Nach dem Tod seiner Frau, die seiner seltsamen Leidenschaft mit großer Skepsis begegnete, hatte er immer nur dieselben fünf Modelle: Seine vier Kinder und deren Kindermädchen, Mary Warner, die auch zu seiner Partnerin wurde. Die Villa in Innsbruck wurde zum »Haus der fünf Musen«.
Im Jahre 1913 ging der Familie langsam das Geld aus, die Apanagen aus Dresden waren aufgebraucht, der Schwager hatte das Familienvermögen verspielt und Heinrich Kühn suchte händeringend nach einem Broterwerb. Er versucht in Innsbruck einen staatlichen Lehrstuhl für künstlerische Fotografie einzurichten – es sieht sehr gut dafür aus. Doch im August erfährt Kühn nach zweijährigen Verhandlungen, das zuständige Ministerium habe kein Geld mehr, verweigere die Unterschrift, alles Geld werde für Militärausgaben gebraucht, der Balkankrieg, Sie wissen schon.
Doch Kühn lässt sich davon nicht entmutigen, fotografiert immer wieder seine heimische Schauspielgruppe – also die Kinder Walter, Edeltrude, Hans und Lotte. Und Mary. Auf dem Titelbild des Buches, das Sie, lieber Leser, gerade in Händen halten, sehen wir Mary und seine älteste Tochter über einen Bergrücken huschen, oben drücken die schweren Wolken des August. Weiß ist die eine Möglichkeit als Kleidung, blau, rot und grün die andere – der Vater kauft den Kindern extra »Fotokleidung«, die an die reinen Farbtöne der drei Schichten der Autochromplatte angepasst sind.
Es gibt den stets melancholisch wirkenden Walter, die Nickelbrille des Frühreifen auf der Nase, der früh zu malen begann, dann Edeltrude, introvertiert, die aussieht, als leide sie sehr an der Welt im Allgemeinen und ihrem Vornamen im Besonderen, schließlich Lotte, die lebendigste, strahlendste, und dann Hans, den jüngsten, geduldigen Bub. Heinrich Kühn ist ein liebevoller Vater, aber ein radikaler Künstler. Wenn am Ende ein Kind zuviel auf dem Bild ist, wenn eines den Bildaufbau stört, dann retuschiert er es rigoros weg, auch wenn er Stunden gebraucht hat, um alle Kinder in Position zu bringen. Was Kühn in seinen Bildern zeigen will, ist nichts weniger als das Paradies. Spielende Kinder, ruhende Kinder, Frauen in wallenden Kleidern, die unschuldige Natur. »Der Sündenfall«, so schreibt er in einem Brief, »hat zweierlei Gestalt: Die Sozialdemokratie. Und den Kubismus.«
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Kaiser Franz Joseph ernennt den Thronfolger, Erzherzog Franz Ferdinand, zum »Generalinspektor der gesamten bewaffneten Macht« und erweitert damit dessen Befugnisse. Den vom Chef des Generalstabs, Franz Graf Conrad von Hötzendorf, seinem größten Feind, geforderten Präventivkrieg gegen Serbien und Montenegro lehnt der Thronfolger ab.
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In Den Haag wird im September der Friedenspalast eingeweiht, gebaut mit Spenden aus aller Welt, davon etwa 1 , 25 Millionen Dollar des amerikanischen Multimillionärs Andrew Carnegie. Man beginnt mit den Vorbereitungen für eine neue Haager Friedenskonferenz, die 1915 alle offenen Fragen zwischen den Völkern klären soll.
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Ernst Ludwig Kirchner bricht nach dem Zusammenbruch der »Brücke« aus Berlin auf, um auf die Ostseeinsel Fehmarn zu reisen. So sehr will er die Stadt, ihren Lärm, ihre Motive hinter sich lassen, dass er bis zum letzten südöstlichsten Zipfel der Insel weiterreist, dem einsamen Haus des Leuchtturmwärters Lüthmann – und dort nach ganz oben ins »Giebelzimmer«, wo er auch im vorigen Jahr schon war. Der Leuchtturm, der einsame Strand, die acht Kinder des Leuchtturmwärters, das werden seine Motive für den Sommer. Man sieht das schlechte Wetter auf den Bildern, immer wieder ziehen dunkle Wolken auf am Horizont. Unten am Strand hängen die Bäume ins Wasser, dass man fast an die Südsee denkt, und oben blüht der Goldregenbaum, den Kirchner tagelang malte, in seiner gelbschreienden Pracht. Kirchner war diesmal nicht nur mit Erna gereist, die hier »Frau Kirchner« heißt, obwohl sie fast immer nackt umherläuft, sondern auch Otto Mueller und seine Frau Maschka kommen dazu, sie malen sich gegenseitig beim Baden, sie genießen die Freiheit, den langsam beginnenden Ruhm. Die Kinder der Lüthmanns und der Leuchtturmwärter selbst nehmen die Kirchners in ihren Familienkreis auf, voll
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