1913
Wärme und Zutraulichkeit. Vielleicht sind die Sommerwochen auf Fehmarn die glücklichsten Tage, die Kirchner je erlebt. »Oh, Staberhuk, wie bist du herrlich, ein Glück im Winkel friedlich schön!«, so schreit er dem Wind entgegen, immer wieder und wieder. Auch Kirchners Stil erhebt sich zu neuen Höhen, nicht mehr breit hingelagert sind die Frauen, sondern himmelwärtsstrebend, der Strich ist nervöser, schlanke, überlängte Figuren, Erna und Maschka nackt am Strand dominieren seine Zeichnungen und Gemälde, er sei so abhängig von der Körperform, klagt er im Scherz, völlig abhängig davon. Wenn er einmal mit einem Bild unzufrieden ist, dann wirft er es wütend ins Meer – aber nur, um ihm dann nachzutauchen, es aus den Fluten zu holen und wieder auf die Staffelei zu stellen und es neu zu malen, besser. Immer wieder werden die wunderbarsten Bohlen an den Strand gespült, denn ein Jahr zuvor, zeitgleich mit der »Titanic«, war auch vor Fehmarn ein Schiff gekentert. Der Schoner »Marie«. Sein Holz ist Teil der Kunstgeschichte geworden, denn Kirchner schwamm immer wieder bis zu der Sandbank, wo das Wrack lag, um sich besonders schöne Holzstücke zu holen, die sich zum Schnitzen eigneten. Am 12 . August schreibt er an seinen Hamburger Sammler und Förderer Gustav Schiefler: »Der Kopf, den ich Ihnen sandte, ist Holzschnitzerei (Eiche), ich habe hier einige Figuren dieser Art gemacht.« Und in einem Brief an seinen Schüler Hans Gewecke schreibt er dann im September: »Leider müssen wir bald zurück. Sie glauben nicht, wie schwer es uns fällt. Ich weiß nicht, ob das Meer im Sommer oder im Herbst am schönsten ist. Ich male so viel wie möglich, um wenigstens etwas von den tausend Dingen, die ich malen möchte, mitzuschleppen. Dazu wird das Eichenholz von dem gestrandeten Schiff immer verlockender für Plastiken. Ich muss ein paar Stück unbehauen mitnehmen, denn die Zeit drängt, und die Tage werden immer kürzer.« Sosehr dieses Wrack Kirchner faszinierte, sosehr er es ausschlachtete für seine Arbeit – es taucht in keiner einzigen seiner Zeichnungen, Grafiken oder Gemälde aus Fehmarn auf, obwohl allein 1913 Hunderte Werke hier entstanden. Das an der Ostsee gestrandete Schiff – er hatte das klassische Motiv der Romantik leibhaftig vor Augen, die ultimative Caspar-David-Friedrich-Situation. Doch Ernst Ludwig Kirchner verweigert dem Wrack geradezu patzig die Aufnahme in sein Œuvre. Es gibt kaum ein eindeutigeres Zeichen dafür, dass 1913 die deutsche Romantik endgültig vorbei ist.
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Die Mona Lisa ist noch immer spurlos verschwunden. Im Louvre hat man einen Corot an den verwaisten Nagel gehängt.
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Felice Bauer fährt, schockiert von den Briefen Kafkas, im August nach Sylt. Es gehen unzählige Briefe zwischen ihr und Prag hin und her, ob Kafka nun kommt oder nicht, ob ihm das Reizklima nun guttut oder nicht. Am Ende kommt er natürlich nicht. Ach, es wären so schöne Tagebuchnotizen geworden, Kafka in Kampen. Doch es sollte nicht sein.
SEPTEMBER
Ein Tod in Venedig erschüttert Berlin. Virginia Woolf und Carl Schmitt wollen sich umbringen. Am 9 . September stehen die Sterne schlecht. Duell in München: Freud und C. G. Jung kreuzen die Klingen. Rilke muss zum Zahnarzt, um sich Amalgamfüllungen machen zu lassen, Karl Kraus verliebt sich Hals über Kopf in Sidonie. Kafka reist nach Venedig, stirbt nicht, sondern verliebt sich in Riva. Der »Erste Deutsche Herbstsalon« beginnt, und Rudolf Steiner legt den Grundstein in Dornach. Louis Armstrong hat seinen ersten öffentlichen Auftritt. Charlie Chaplin unterschreibt seinen ersten Filmvertrag. Der Rest ist Schweigen.
Gerhart, der Sohn des Verlegers Samuel Fischer, dessen Geburtstag man gerade in Venedig gefeiert hatte und der da schon malade war und blass und fiebrig, stirbt am 9 . September den »Tod in Venedig«, wie der große verlegerische Bucherfolg seines Vaters 1913 heißt. Er wird noch eilends mit einem Krankentransport nach Berlin gebracht, doch da erliegt er seinem Leiden, dem »italienischen Leiden« wie man sagen kann, weil die Leidensgeschichte so sehr der Gustav von Aschenbachs ähnelt, des Helden von Thomas Mann, der in Venedig vom Typhus hinweggerafft wird. Und es ist nur zu passend, dass Hugo von Hofmannsthal in Venedig vom Tod des Verlegersohnes erfährt und am 17 . September von dort Samuel Fischer und seiner Frau kondoliert: »Dort, eben dort wo das Schwerste des Schmerzes sitzt, eben an der Spitze des Schmerzes, der
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