1913
trifft, dort scheint mir auch das Tröstende zu wohnen – nur dort und nicht seitwärts.«
Gerharts Tod ist ein Schock für den S. Fischer Verlag und das gesamte kulturelle Berlin – Gerhart war eine heißgeliebte, zarte Person, nach langem Ringen mit seinen Eltern nun als Musikstudent auf gutem eigenen Weg. Es gibt eine große Beerdigung auf dem jüdischen Friedhof in Weißensee, die Sonne will nicht passen zu der bestürzten Trauer auf den Gesichtern. Samuel Fischer, taub vor Schmerz, verliert im Schock sein Gehör auf einem Ohr. Gerhart Hauptmann, der Inspirator des Vornamens, gerade 51 Jahre alt und auf dem Gipfel seines Ruhmes, eilte herbei zur Beerdigung, um dann in seinem Tagebuch lakonisch zu vermerken: »Um 3 Uhr Begräbnis Gerhart Fischer. Um 5 Uhr Große Costümprobe zu Wilhelm Tell: das ist Berlin, d(as) ist d(as) Leben.«
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Rainer Maria Rilke muss sich wegen starker Zahnschmerzen im Berliner Hospiz des Westens in der Marburger Straße 4 behandeln lassen. Von dort schreibt er an Eva Cassirer, seine Vertraute und Mäzenin seiner Frau Clara, dass er gerade Thomas Manns »Tod in Venedig« gelesen habe: »Über vieles im ersten Theil war ich sehr überrascht und fand es wunderbar ausgebildet; der zweite Theil aber war diesem Eindruck eher entgegen, so dass ich schließlich mit dem Ganzen, das sich mir irgendwo aufhob innerlich, nichts anzufangen wusste.« Dann muss Rilke wieder zur Zahnbehandlung. Er wird betreut von Dr. Charles Bödecker, einem deutsch-amerikanischen Experten für Metalleinlagen, der mit Amalgamfüllungen Rilkes großflächige Zahnschäden zu beheben versucht.
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Die Galerie Hermes aus München schickt Lovis Corinth in sein Domizil in Klein Niendorf an der Ostsee ein Gemälde nach. Er hatte es im Juli in Tirol gemalt, als es seinem Sohn wieder besser ging und er gebadet wurde. »Nacktes Kind im Waschzuber« heißt es – und Corinth hatte es auf der Rückreise dann gleich in München bei dem Kunsthändler Oscar Hermes am Promenadenplatz gelassen. Doch dem gefiel die Nase des Kindermädchens nicht. Er schickte das Bild deshalb am 2 . September zur kosmetischen Operation an die Ostsee. Corinth schaut das Bild an, schaut die Nase an, bittet das Kindermädchen herein, schaut ihre Nase an – und ändert die Nase auf dem Bild. Dann wird es zurückgeschickt nach München. Das sind die Vorteile eines Galeristen von zeitgenössischer Kunst. Reklamationen können direkt bearbeitet werden.
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Im September erscheint im königlichen Realgymnasium zu Augsburg die erste Ausgabe der Schülerzeitung »Die Ernte« in der Auflage von 40 hektographierten Exemplaren. Der Preis beträgt 15 Pfennig. Die meisten Beiträge stammten von einem Schüler der Klasse 6 A namens Bertolt Brecht. Die anderen Beiträge stammen von Berthold Eugen. Eugen ist Brechts dritter Vorname nach Friedrich und Berthold und das Pseudonym von Bertolt Brecht. Unter diesem Namen schickt er auch Gedichte an die »Augsburger Neuesten Nachrichten«. Sie bleiben dort unter einem großen Stapel auf dem Tisch des Feuilletonredakteurs liegen. Brecht ist fünfzehn. Marie Rose Amann ist zwölf, leider haben sie sich noch nicht getroffen, er hält sie noch nicht in seinem Arm wie einen holden Traum, wie es später in der »Erinnerung an die Marie A.« heißen wird.
An jenem Tag im blauen Mond September 1913 , da hält Brecht nur sie in seinem Arm wie einen holden Traum: die ersten Exemplare seiner neuen Schülerzeitung, die er ins Direktorenzimmer bringt.
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Wohl am 10 . September heiratet der Tänzer und Choreograph Waslaw Nijinsky, der lange eine Beziehung mit Djagilew, dem Leiter der Ballets Russes, hatte und mit dem er gerade noch den Triumph mit Strawinskys »Le sacre du printemps« gefeiert hatte, auf einer Südamerika-Tournee aus heiterem Himmel die Tänzerin Romola de Pulszky. Djagilew erleidet einen Schock und entlässt beide mit sofortiger Wirkung.
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Im September 1913 werden Berthold Beitz, Robert Lembke und Hans Filbinger geboren.
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Marcel Duchamp, der immer noch keine Lust auf Kunst hat, schreibt auf einen Zettel seine Gedanken zu der Frage, was überhaupt noch möglich ist. Also:
»Möglich.
Die Figuration eines Möglichen.
(nicht als entgegengesetzt zu unmöglich.
noch als bezogen auf glaubwürdig
noch als untergeordnet von wahrscheinlich).
Das Mögliche ist nur
eine physische ›Ätze‹ [Genre Vitriol]
die jede Ästhetik oder Kallistik versengt«.
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Am 20 . September vollzieht Rudolf Steiner
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