1913
München. Und nachmittags zieht er seine Runde mit Anna, untergehakt gehen sie durch den kühlen Wald. Ein Bild aus diesen Tagen zeigt Anna in Tracht, keck schaut sie in die Kamera, selbstbewusst, daneben der Vater, stolz zwar, aber doch auch missmutig, ja ängstlich. Er lässt im Sanatorium in den Bergen seine Migräne behandeln und seine chronische Erkältung. Christl von Hartungen verordnet Freud eine strikte Abstinenz von Tabak und Alkohol und viel frische Luft. Doch Freud kommt kaum zu neuen Kräften. Je näher München rückt, umso verstörter wird er. Und dann, einen Tag vor der Abreise, mitten in der Nacht, lässt Dr. Freud Dr. von Hartungen kommen, er hat einen Ohnmachtsanfall erlitten und bittet auf einer Visitenkarte hastig um medizinische Hilfe.
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Anfang August reist Picasso, wieder genesen von dem Schock des Todes seines Vaters und seines Hundes Frika, nach Céret. Doch er ist inzwischen so berühmt, dass am 9 . August die Lokalzeitung »Indépendant« meldet: »Die kleine Stadt Céret jubelt. Der kubistische Meister ist angekommen, um sich ein wenig wohlverdiente Ruhe zu gönnen. Zur Zeit haben sich die Maler Herbin, Braque, Kisling, Ascher, Pichot, Gris und der Bildhauer Davidson in Céret um ihn versammelt.« Picasso leidet unter diesem Trubel. Vor allem ist ihm Juan Gris nicht geheuer, denn der beherrscht inzwischen die kubistische Technik fast genauso gut wie er selbst und weiß virtuos aus Bruchstücken, Tapeten und Zeitungsfetzen eine neue Welt zusammenzusetzen. Und dann kommt noch sein alter Freund Ramon Pichot nach Céret, um Picasso zu überreden, seiner letzten Geliebten Fernande Geld zum Überleben zu geben. Picasso hasst es, solchermaßen bedrängt zu werden. Es kommt zu einem wilden Gemenge. Picasso und Eva, die ihn damals Fernande ausgespannt hatte, reisten panikartig ab. Sie kehren ins pulsierende Paris zurück, »um Ruhe zu finden«, wie Picasso völlig wahrheitsgemäß seinem Kunsthändler Kahnweiler nach Rom schreibt. Eva und Picasso ziehen in ihr neues Appartement mit Atelier in der Rue Schoelcher 5 in Montparnasse.
Von dort sind es mit der neuen Zugstrecke nur zehn Minuten bis nach Issy-les-Moulineaux, wo Henri Matisse jetzt lebt. Kaum aus Céret zurück, fahren Picasso und Eva raus und reiten mit Matisse durch den Sommer. Das ist dann doch ein so außergewöhnliches Ereignis, dass es gleich zweimal an das Hauptquartier der Moderne, Gertrude Stein, gemeldet wird. Erst von Picasso: »Wir reiten mit Matisse durch den Wald von Clamart« am 29. August. Und dann am selben Tag von Matisse: »Picasso ist ein Reiter. Wir reiten zusammen aus, was alle überrascht.« Die Nachricht der Versöhung der beiden Heroen war schnell das wichtigste Thema in Montparnasse und Montmartre, also der ganzen Welt.
»Wir sind leidenschafltlich interessiert an den technischen Problemen des anderen. Wir profitierten zweifellos voneinander, es war wie eine künstlerische Brüderschaft«, schreibt Matisse über seinen einstigen größten Rivalen. Und zu Max Jacob sagt Matisse: »Wenn ich nicht das machen würde, was ich mache, würde ich gerne so malen wie Picasso.« Und da antwortet ihm Max Jacob, »es ist sehr verrückt, genauso dasselbe hat mir gerade Picasso über Dich gesagt.«
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Georg Trakl ist rasend vor Wut. Er will seine Schwester Gretl sehen, doch er findet sie nicht. Seine Anstellung als Verrechnungsbeamter im Wiener Kriegsministerium war natürlich ein Witz. Er geht nicht mehr hin, trinkt schon bis mittags die ersten fünf Viertel Roten. Nimmt Drogen. Seine Freunde Adolf Loos und dessen englische Frau Bessie verordnen ihm mit sofortiger Wirkung: Urlaub, Urlaub vom Ich. Die Reise geht nach Venedig. Er schreibt am 14 . August an seinen Freund Buschbeck: »Samstag soll ich mit Loos nach Venedig fahren, was mir einigermaßen eine unerklärliche Angst macht.« Am nächsten Tag ein zweiter Brief, darin ein seltener Anflug von Euphorie, entflammt von der Aussicht auf den ersten Urlaub seines Lebens: »Lieber! Die Welt ist rund. Am Samstag falle ich nach Venedig hinunter. Immer weiter – zu den Sternen.« Natürlich scheitert das Unterfangen. Es wird eine Missvergnügungsreise. Der nach den Sternen griff, hat nur Quallen in der Hand. Selbst der verehrte Karl Kraus, der mit an den Lido gefahren ist, selbst Adolf Loos und Ludwig von Ficker, die ihn samt ihren Ehefrauen umsorgen, erhellen Trakl nicht das Gemüt, das zudem durch Peter Altenberg verdüstert wird, der ebenfalls teilnimmt an diesem
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