1913
Betriebsausflug der österreichischen Intelligenz. Es ist Mitte August, und Georg Trakl läuft ziellos über den Lido von Venedig. Die Sonne scheint, das Wasser ist warm, und der Dichter ist der unglücklichste Mensch auf der ganzen Welt. Eine Aufnahme aus den Augusttagen des Jahres 1913 zeigt ihn beim unsicheren Tappen über den Sand, die Haare bürstig und brüchig, die Haut blass wie die eines Molches, der in einer Höhle tief unter der Erde lebt. Die linke Hand geformt zur Knospe, die Lippen gespitzt. Er kehrt dem Meer den Rücken, fühlt sich offenkundig jämmerlich in seinem Badekostüm, verloren, heimwehkrank und scheint Verse vor sich hin zu murmeln. Nachts im Hotel schreibt er sie dann auf: »Schwärzlicher Fliegenschwarm / Verdunkelt den steinernen Raum / Und es starrt von der Qual / Des goldenen Tags das Haupt / Des Heimatlosen.«
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Venedig, diese untergehende Stadt, übt im Sommer 1913 einen unwiderstehlichen Reiz aus auf die dem Morbiden besonders zugetane Wiener Intelligenz. So kommen neben Trakl, Peter Altenberg, Adolf Loos und dessen Frau und dem Ehepaar von Ficker am 23 . August auch Arthur Schnitzler und seine Frau Olga in Venedig an. Sie sind aus Brioni angereist und logieren im Grand Hotel. Am Strand treffen sie den nächsten alten Bekannten: Hermann Bahr, den großen bärtigen Hünen, und seine Frau. Schon am nächsten Tag, nach einer Gondelfahrt mit Olga, verabredet sich Schnitzler mit seinem Verleger Samuel Fischer, mit dem er Fragen der nächsten Veröffentlichungen bespricht. Die Fischers feiern in Venedig mit ihren besten Freunden den 19 . Geburtstag ihres Sohnes Gerhart. Richard Beer-Hofmann ist da, der Schauspieler Alexander Moissi, auch Hermann Bahr und Altenberg stoßen dazu. Von Trakl ist nicht die Rede. Leider sind alle angeschlagen, Gerhart, das Geburtstagskind, ist abgemagert und fiebrig, und auch Samuel Fischer hat eine Mittelohrentzündung. Man feiert trotzdem und stößt an auf das junge, aussichtsreiche Leben. Ende August dann reisen die Schnitzlers zurück, ganz behaglich und langsam, über St. Moritz und über Sils Maria, wo die beiden am 28 . August Goethes Geburtstag im »Waldhaus« feiern und ein wenig auch ihren zehnten Hochzeitstag.
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Wir dürfen Kafka nicht vergessen und seine Braut! Wie hat wohl Felice Bauer reagiert auf den absonderlichsten Heiratsantrag aller Zeiten? Verstört. Aber selbst sie hatte, obwohl inzwischen hartgesotten, wohl nicht damit gerechnet, dass auch Kafka in der Lage war, seine als Heiratsantrag getarnte desaströse Selbstbezichtigung zu übertreffen. Doch dann schreibt Kafka seinen »Brief an den Vater«. Er ist nicht so berühmt geworden wie der, den er seinem eigenen Vater schrieb. Aber er hätte es verdient. Er ist unglaublich. Am 28 . August also, Goethes Geburtstag, fragt Kafka Felices Vater, ob er ihm seine Tochter anvertrauen würde. Beziehungsweise: Er warnt ihn händeringend davor, ihm seine Tochter anzuvertrauen: »Ich bin schweigsam, ungesellig, verdrossen, eigennützig, hypochondrisch und tatsächlich kränklich. Ich lebe in meiner Familie, unter den besten, liebevollsten Menschen, fremder als ein Fremder. Mit meiner Mutter habe ich in den letzten Jahren durchschnittlich nicht zwanzig Worte täglich gesprochen, mit meinem Vater kaum jemals mehr als Grußworte gewechselt. Mit meinen verheirateten Schwestern und den Schwägern spreche ich gar nicht, ohne etwa mit ihnen böse zu sein. Für die Familie fehlt mir jeder mitlebende Sinn. Neben einem solchen Menschen soll Ihre Tochter leben können, deren Natur, als die eines gesunden Mädchens, sie zu einem wirklichen Eheglück vorherbestimmt hat? Sie soll es ertragen, ein klösterliches Leben neben einem Mann zu führen, der sie zwar lieb hat, wie er niemals einen andern lieb haben kann, der aber kraft seiner unabänderlichen Bestimmung die meiste Zeit in seinem Zimmer steckt oder gar allein herumwandert?«
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Die Ehe als Schicksalsschlag. Passend zum Thema meldet die »Gartenlaube« in ihrer Nr. 21 : »In manchen Gegenden unsres Vaterlandes herrscht noch ein schöner, sonst vielfach schon vergessener Brauch. Dort wird der Braut, wenn sie die Schwelle des elterlichen Hauses zum letztenmal als Mädchen überschreitet, um zur Trauung zu gehen, von der Mutter ein Taschentuch aus neuer Leinwand übergeben. Dieses Tuch hält die Braut während der feierlichen Handlung in der Hand, um sich die bräutlichen Tränen damit zu trocknen. Am Hochzeitsabend wird das Tüchlein dann
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