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1913

1913

Titel: 1913 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Illies
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künstlerisch. Der »Erste Deutsche Herbstsalon« in Berlin, für den vor allem Franz Marc aus Sindelsdorf und sein Freund August Macke in Bonn seit dem Frühjahr die Fäden spannen, wird am 19 . September in Herwarth Waldens legendärer »Sturm«-Galerie eröffnet. Er hat die eigentlich zum Abbruch freigegebene Villa in der Tiergartenstraße 34 a im Jahr zuvor in ein spektakuläres Ausstellungshaus verwandelt.
    Die Künstlerliste dieser Ausstellung zum »Herbstsalon«, dem Pariser »Salon d’Automne« nachempfunden, enthält alles, was 1913 Avantgarde war – mit Ausnahme der Berliner »Brücke«-Künstler, die nach dem schmerzvollen Zerbrechen der Künstlervereinigung im Mai noch in ihren Sommerfluchten an der Ostsee ihre Wunden lecken und denen nicht der Sinn steht nach der nächsten Gruppendynamik. »Wenn sie nicht mittun«, schreibt Marc an Macke nach Bonn, »wäre es nicht das tiefste Unglück, nur um Nolde und Heckel ist mir leid.« Von Kirchner kein Wort. Er ist den beiden gemütvollen »Blauen Reitern« zutiefst wesensfremd. 366 Bilder werden am Ende ausgestellt, die von 90 Künstlern aus zwölf Ländern stammen – nach der »Armory-Show« in New York die zweite Ausstellung des Jahres, die Maßstäbe setzt. Walden hatte für den »Herbstsalon« einen riesigen Saal von 1200  Quadratmetern in der Potsdamer Straße 75 angemietet. Bernhard Koehler, der große Mäzen, gibt 4000 Mark für die Organisation, am Ende muss er noch einmal nachschießen für die Transportkosten. Aber der »Erste Deutsche Herbstsalon« ist eine Sensation. Zur Eröffnung kommen Robert und Sonia Delaunay aus Paris und auch Marc Chagall, der »Blaue Reiter« ist fast vollständig vertreten und selbst die italienischen Futuristen reisen extra in die »Sturm«-Galerie. Alle wissen, dass sie einem historischen Ereignis beiwohnen. Engländer, Franzosen, Deutsche, Russen, Österreicher, Ungarn, Italiener, Tschechen – alle vereint in dem Wunsch nach einer neuen Kunst. Es ist eine ästhetische Allianz über Grenzen hinweg, eine Demonstration der Zusammengehörigkeit der Avantgarde jenseits aller außenpolitischen Scharmützel.
    Es sind Werke von Archipenko, Delaunay, Léger, Severini, Carra, Boccioni, Jawlensky, Marc, Macke, Münter, Klee, Chagall, Kandinsky und Picabia zu sehen, daneben, erstmals im Kreis der Avantgarde, Bilder der jungen Maler Lyonel Feininger und Max Ernst. Franz Marc zeigt seine drei Jahrhundertbilder aus dem Jahre 1913 , bei denen die Farbe noch immer nicht ganz trocken ist: den »Turm der blauen Pferde«, dann »Wölfe (Balkankrieg)« und schließlich jenes Bild der ineinander verkanteten Kreaturen, für das er keinen Titel fand, bis schließlich Paul Klee ihm den Titel »Tierschicksale« gab. Parallel gibt es ein Vortragsprogramm, zu dem mit Guillaume Apollinaire, dem Namensgeber des Kubismus aus Paris und Tommaso Marinetti, dem Wortführer der italienischen Futuristen, die zwei schillerndsten Kunsttheoretiker überhaupt in die »Sturm«-Galerie kommen.
    Die Reaktion der Öffentlichkeit ist empört bis wütend. Die Zeitungen drucken wüste Beschimpfungen, die August Macke nach den unendlichen Mühen der Organisation schwer kränken. Er wütet über die »Schweinehunde« und die »Sauzeitungsbengel«, die nicht verstehen, was da gerade in Berlin zu sehen ist. Die »Frankfurter Zeitung« etwa schreibt: »Es wird die Vorstellung erweckt, als ob es in dieser Ausstellung irgendetwas zu sehen gäbe in den Entwicklungsfortschritten. Nie war eine Prätention anmaßender, nie weniger begründet.« Und die »Hamburger Nachrichten« bilanzieren: »Es ist in der Tat grober Unfug, diese Unsumme von Lächerlichkeiten, von blöden Schmierereien. Man glaubt aus der Gemäldegalerie eines Irrenhauses zu kommen.« Dagegen Franz Marc in seinem Brief an Kandinsky: »Meine leitende Idee beim Hängen war: die ungeheure geistige Vertiefung und künstlerische Regsamkeit zu zeigen. Ein Mensch wird nur klopfenden Herzens und voll guter Überraschungen gehen. Für mich persönlich ist das Fazit auch überraschend: ein bedeutendes Überwiegen (auch an Qualität) der abstrakten Formen.« Dann verlegen Marc, Macke und Herwarth Walden ein Flugblatt, das sie am Kurfürstendamm und im Zoo verteilen. Darin die schönen Worte: »Kunstausstellungen müssen gegen den Willen der Kunstkritiker besucht werden!« Aber es hilft nichts. Kaum jemand kommt. Die Ausstellung endet als finanzielles Desaster, Mäzen Koehler musste statt 4000 am Ende fast 20 000

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