1913
München und träumt, sein Haus sei zu einem Gefängnis der Französischen Revolution geworden – »und ich bin mir bewusst, dass dies der letzte Tag meines Lebens ist: ich bin zum Tode verurteilt«. Rundherum Schreiber, die mit der Erledigung von Todesurteilen beschäftigt sind. Da erscheint seine Frau: »doch es ist ein Wesen, dessen Gesicht ich nie gesehen habe, doch im Traum mir so vertraut, wie nur die Frau, mit der man zehn Jahre gelebt hat. Blitzschnell sagen wir uns beide, dass wir uns jetzt nicht umarmen dürfen.« Seine Frau lässt ihn bei den Schreibern, die das Todesurteil vollstrecken. »Ich fühle, dass ich ihr nicht nachsehen kann, drehe mich gegen das Fenster, durch das die grelle Sonne hereinscheint.« Hofmannsthal wacht auf. Benommen zieht er sich an und versucht, sich durch einen Gang im Englischen Garten von dem Traum zu erholen. Doch die Bilder gehen ihm nicht aus dem Kopf, sein Körper fühlt sich noch immer an, als sei er zum Tode verurteilt. Es ist noch sehr früh, es sind kaum Spaziergänger im Park. Warm scheint die Herbstsonne über die Bäume. Er geht über die kleine Brücke des Eisbachs, da kommt ihm – das ist nun kein Traum mehr – ein Mann entgegen, der aussieht wie der große Traumdeuter Sigmund Freud. Und es ist Sigmund Freud. Der begrüßt den Wiener Bekannten herzlich, fragt nach dem Befinden und ob er denn gut geschlafen habe, er sehe etwas mitgenommen aus. »Alles bestens, verehrter Doktor«, sagt Hofmannsthal. Und als dann auch noch Rainer Maria Rilke um die Ecke kommt, der sich mit Freud hier zum Spazieren verabredet hat, ist Hofmannsthal endgültig, als träume er noch. Aber es ist, wie alles in diesem besonderen Jahr, wahr.
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In einem Artikel über Unterricht in Erster Hilfe schreibt die »Neue Freie Presse« aus Wien am 6 . September 1913 , als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt: »Wie von der Qualität des ersten Verbandes auf dem Schlachtfelde das Schicksal des Verwundeten abhängt, so ist die erste Hilfe bei den alltäglichen Unglücksfällen von größter Bedeutung für die Prognose.«
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Das Krankheitsbild der »Neurasthenie«, das Burn-Out-Syndrom des Jahres 1913 , wird aufgenommen in das 11 -bändige Werk »Spezielle Pathologie und Therapie innerer Krankheiten«. C. G. Jung soll über »Neurasthenie« schreiben, er lehnt aber ab, weil »ich zu wenig davon verstehe und auch gar nicht daran glaube«.
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Franz Kafka verlässt Anfang September Prag, um seine Verzweiflung und »Neurasthenie« heilen zu lassen. Sein Ziel ist das Hartungen’sche Sanatorium in Riva am Gardasee. Eigentlich hat er mit Felice gemeinsam fahren wollen, aber ihr Vater hat noch nicht geantwortet auf seinen Brautbrief, so bricht er nun auf, weil er erst einmal nach Wien muss, von Amts wegen, wo er vom 9 . bis 13 . September den »Zweiten Internationalen Kongress für Rettungswesen und Unfallverhütung« gemeinsam mit seinem Vorgesetzten besucht. Dann geht es weiter mit der Bahn nach Triest, jener einzigen Hafenstadt Österreich-Ungarns am Mittelmeer, die in jenen Jahren einen beispiellosen Aufschwung erlebt. Der Hafen sorgt für ein einzigartiges Vielvölkergemisch in den Straßen und in den Kaffeehäusern, und es ist die Stadt, wo James Joyce zurückgezogen als Englischlehrer lebt und Tag für Tag an seinen Vorstudien zum »Ulysses« sitzt. Am 14 . September also sind Franz Kafka und James Joyce in Triest. Und auch Robert Musil ist in diesen Tagen hier, auf seiner Reise von Rom nach Wien. Wir dürfen uns vorstellen, wie sie alle am späten Nachmittag am Hafen einen Kaffee trinken, bevor sie weiterziehen.
Kafka fährt mit dem Schiff weiter nach Venedig, dort, im Hotel Sandwirth, schreibt er, nach weit über zweihundert Briefen und Karten seit Jahresbeginn, seinen vorläufig letzten Brief an Felice Bauer. Er hat erkannt, dass er nicht große Kunst hervorbringen kann, wenn er sich auf die Liebe und das Leben einlässt. In seinem Tagebuch notiert er: »Der Coitus als Bestrafung des Glücks des Beisammenseins. Möglichst asketisch leben, asketischer als ein Junggeselle, das ist die einzige Möglichkeit für mich.« Und dann, ein paar Tage später: »Ich werde mich bis zur Besinnungslosigkeit von allen absperren. Mit allen mich verfeinden, mit niemandem reden.« Und so schreibt er am 16 . September auf dem Hotelpapier mit Blick auf den Kanal, besinnungslos und »grenzenlos unglücklich«, an Felice: »Aber was soll ich tun, Felice? Wir müssen Abschied nehmen.«
Kafka
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