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1913

1913

Titel: 1913 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Illies
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fährt weiter, plötzlich frei von der Last, Ehemann sein zu müssen, und als er am 22 . September in Riva ankommt, fühlt er sich leer, verstört und doch auch erleichtert. Die beiden Brüder Erhard und Christl von Hartungen, die gerade noch Freud in ihrer Filiale in den Bergen zu kurieren versuchten, nehmen nun den nächsten großen Patienten in ihre Obhut. Es gibt ein einführendes Therapiegespräch, die Ärzte empfehlen Diät, viel Luft und viel Rudern. Kafka wird in der ersten Woche, die Sonne scheint und das Wetter ist warm, in eine der »Lufthütten« am Strand verlegt, um ganz von Sauerstoff umgeben zu sein. Die Therapie scheint anzuschlagen, am 28 . September macht er einen kleinen Ausflug nach Malcesine, von wo er seiner Schwester Ottla nach Prag eine launige Postkarte schreibt: »Heute war ich in Malcesine, wo Goethe das Abenteuer gehabt hat, das Du kennen würdest, wenn Du die Italienische Reise gelesen hättest, was Du bald tun sollst.«
    Am selben Tag, es ist kühler geworden und oben auf den Gipfeln zeigt sich schon der erste Schnee, zieht Kafka von seiner Lichthütte in das Haupthaus des Sanatoriums. Bei Tisch, so berichtet er an seinen Freund Max Brod, »sitze ich zwischen einem alten General und einer kleinen, italienisch aussehenden Schweizerin«. Diese kleine Schweizerin holt Kafka ins Leben zurück. Sie denken sich Klopfspiele zwischen ihren Zimmern aus, spielen Fangen im Park. Gemeinsam rudern sie auf den See hinaus und lassen sich im Ruderboot treiben: »Die Süßigkeit der Trauer und der Liebe. Von ihr angelächelt werden im Boot. Das war das Allerschönste. Immer nur das Verlangen zu sterben und das Sich-noch-Halten, das allein ist Liebe.« Beiden ist klar, dass sie nur zehn Tage haben für ihre Liebe. Dann reisen sie zurück. Kafka nach Prag, die Schweizerin nach Genua, wo ihre Familie wohnt. Kafka hat das erste Mal nicht zu jeder Stunde des Tages an Felice gedacht. Er hat sich für zehn Tage in eine kindliche Verliebtheit gestürzt, die zu nichts führen muss.
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    Kurt Tucholsky, heißsporniger, leicht pummeliger Promovend der Jurisprudenz an der Universität zu Jena und schon nach kurzer Zeit einer der scharfzüngigsten Kritiker der Berliner »Schaubühne«, träumt den Plan eines jeden heißspornigen, scharfzüngigen Journalisten. Er will eine eigene Zeitschrift gründen, die »Orion« heißen soll. Tucholsky will nach den Sternen greifen. Es soll ein »Jahrkreis in Briefen« werden. Also die Großen der Zeit in ihren authentischen Lebenszeugnissen vorstellen. Eine seltsame Idee, dreimal im Monat sollen die Abonnenten »das Faksimile des Briefes eines großen Europäers« erhalten. Daraus wird nichts. Bald wird Tucholsky den 94 Interessenten, die abonnieren wollten, mitteilen müssen: »Der Orion ist das, was er vorher war: ein Sternbild, fern und unerreichbar.« Rainer Maria Rilke und Hermann Hesse, diese großen Briefschreiber, haben früh zugesagt (Rilke schickt schon am 21 . September ein Gedicht), auch Thomas Mann. Aber das reicht nicht. Aus der Gründungsphase gibt es jedoch ein außergewöhnliches, erreichbares Dokument: nämlich einen Brief Tucholskys, mit dem er am 26 . September aus seinem Zimmer in der Nachodstraße 12 um prominente Mitarbeiter wirbt. Darin liefert er einen Querschnitt durch das Jahr 1913 und die Personen, die ihm aus deutscher Sicht als »Große Europäer« vorkommen, der in dieser Fülle und Prägnanz einzigartig ist. Aus der Literatur will er »Dehmel, Hofmannsthal, Brod, Blei, Morgenstern, Werfel, Rilke, Hauptmann, Wassermann, Th. Mann, Heinrich Mann, Hesse, Schnitzler, Altenberg, Robert Walser, Sternheim, Shaw, Wedekind, Kellermann, Friedell, Keyserling, Hamsun und (!) Kafka« um Beiträge bitten. Aber daneben auch »Mynona, Owlglaß, Holz, Schäfer, Willy Speyer, Wied, Hochdorf (Brüssel), Irene Forbes-Mosse« – Namen also, die 1913 gleichrangig neben den großen ersten standen und die doch heute niemand mehr kennt. Beeindruckend auch seine Liste der großen lebenden Philosophen, die Kurt Tucholsky um Mithilfe bitten will: »Mauthner, Chesterton, Rathenau, Simmel, Wundt, Mach, Buber, Flammarion, Bergson«. Aus der »Bildenden Kunst« schließlich: »Meier-Graefe, Lichtwark, Behrens«. Und bei den Illustrationen und Zeichnungen denkt Tucholsky unter anderem an: »Klimt, Barlach, Kollwitz«. Es wäre doch schön, wenn daraus etwas geworden wäre.
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    Es gibt einen zweiten zeitgenössischen Querschnitt durch das Jahr 1913 – und zwar

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